In der öffentlich-rechtlichen Arithmetik gilt es als Sonderfall, wenn ein gerade mal 30 Jahre junger Journalist zum Leiter eines prestigeträchtigen Auslandsstudios befördert wird. Vassili Golod hätte somit Grund zum Feiern seines frühzeitigen Aufstiegs gehabt – wenn der Auslöser nicht der noch immer andauernde Ukraine-Krieg gewesen wäre und nicht zwei Stunden vor der Studioeröffnung in Kiew noch ein russischer Luftangriff die ukrainische Hauptstadt erschüttert hätte.
So war Mitte Oktober statt Schampus eher die Schutzweste gefragt. Golod konzentrierte sich auf das, was er seit der russischen Invasion im Februar 2022 die meiste Zeit getan hatte und was ihm dieses Jahr eine Nominierung für den Deutschen Fernsehpreis (sowie einen verdienten Anteil an der Auszeichnung für die Sonderausgabe der "Tagesthemen" live aus Kiew) einbrachte: unaufgeregt und mit spürbarer Sachkenntnis über das Land im Kriegszustand zu berichten.
Die Intensität seiner Beiträge für "Tagesschau" und andere ARD-Formate liegt ohne Frage an deren bedrückendem Gegenstand. Aber ein bisschen auch an dem Umstand, dass es sich für Golod um eine Art Heimateinsatz handelt: 1993 in Charkiw geboren, jener Millionenstadt mit 42 Universitäten, die vielen hierzulande wohl erst aus Kriegsberichten geläufig ist, verbrachte er die ersten zwei Jahre seines Lebens in der Ukraine, ehe seine Familie nach Bad Pyrmont zog. Mehr noch: Mit einer russischen Mutter und einem ukrainischen Vater, mit seinem Studium der russischen und der ukrainischen Geschichte, steht Golod dem Konflikt näher als manch internationaler Kriesgreporter, der sich erst jüngst mit der Situation vertraut gemacht hat.
Ohnehin versteht Golod sich nicht als Kriegsreporter, sondern als "Korrespondent, der in einen Krieg geraten ist", wie er DWDL.de-Autorin Senta Krasser im Februar zu Protokoll gab. Die scheinbare Wortklauberei macht sowohl in der journalistischen Haltung als auch in der lokalen Vernetzung einen gehörigen Unterschied. Und sie hatte zumindest in den ersten Kriegsmonaten praktische Auswirkungen: Golod musste von Köln und Warschau aus berichten, bevor er das nötige Sicherheitstraining erhielt und schließlich auf ARD-Ticket in die Ukraine durfte.
Dort hat er das anfängliche ARD-Defizit in der Vor-Ort-Berichterstattung seither mehr als ausgeglichen, wie nicht nur der Fernsehpreis-Jury positiv auffiel. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" nannte ihn einen "Bilderbuchjournalisten", der sich für sein Gegenüber interessiere und druckreif spreche, der "Tagesspiegel" einen "Glücksfall für die ARD". Anlässlich der Eröffnung des Kiewer Studios sagte WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, für die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung sei es "zwingend". Und weiter: "Als der Krieg quasi zur Normalität wurde, ist mir klar geworden, dass wir nie wieder glaubwürdig aus Moskau über die Ukraine berichten können." Eine zutreffende Erkenntnis, die der Kölner Sender personalpolitisch mit der Idealbesetzung manifestierte.
Trotz seines vergleichsweise jungen Alters konnte Golod einschlägige Erfahrung sammeln: Als WDR-Volontär begleitete er 2018 im Studio Moskau die russische Präsidentschaftswahl, als ARD-Korrespondent in London anschließend den Brexit. Selbst die Aufgabe als Chef vom Dienst im Kölner WDR-Newsroom dürfte seine Nerven abgehärtet haben. Wenn sich ihm Menschen in der Ukraine heute regelmäßig vor laufender Kamera anvertrauen, jüngst etwa besorgte Frauen von ausgezehrten Soldaten, dann können sie sicher sein, an einen ebenso einfühlsamen wie verantwortungsbewussten Interviewer geraten zu sein.
Golods persönliches Engagement trägt wenige Monate vor dem zweiten Jahrestag des Überfalls dazu bei, dass das Schicksal der Ukraine nicht in mediale Vergessenheit gerät. Dass sich mit ihm und Sophie von der Tann dieses Jahr gleich zwei Korrespondenten aus Kriegsgebieten unter unseren Bildschirmheldinnen und -helden befinden, sagt über die Weltlage 2023 einiges aus. Es zeigt aber auch, dass der journalistische Nachwuchs starke Persönlichkeiten hervorbringt, die es als Erklärer in Krisenzeiten so dringend braucht.