Ein Gespräch mit Annette Hess sorgt stets für Erkenntnis. Das ist allein schon ihrer unverblümten Art zu verdanken. "Also, wenn man sich ein Haus in der Toskana kaufen will, dann schreibt man lieber eine langlaufende Reihe fürs ZDF als einen Kinofilm", erklärte sie der "Süddeutschen Zeitung" im Juni. Über das Platzen der Streaming- und Serienblase sagte sie dem österreichischen "Standard" im Juli: "Das Ganze ist in Wahrheit ein Schneeballsystem gewesen, wir haben uns alle dem Rausch der Goldgräberstimmung hingegeben." Für den "Stern" hatte sie im November eine Geschichtslektion parat: "Die Bundesrepublik konnte nach dem Krieg nur mit Verdrängung neu aufgebaut werden."
In diesem Interview ging es um ihr jüngstes Meisterwerk "Deutsches Haus", jene Disney+-Serie, die aus der Perspektive einer jungen Gerichtsdolmetscherin vom ersten Auschwitz-Prozess im Frankfurt der frühen 60er Jahre erzählt. DWDL.de attestierte Hess zum Serienstart, das "Holocaust" der Neuzeit geschaffen zu haben, also einen Mehrteiler, der durch Emotionalisierung des vermeintlich Unaussprechlichen Ähnliches leistet wie die bahnbrechende US-Serie Ende der 70er.
Überhaupt erntete die Autorin und Showrunnerin in den vergangenen Wochen viel Lob: "Deutsches Haus" sei die "beste deutsche Serie des Jahres" und sollte "Teil jedes Geschichtsunterrichts und jedes Fernseh-Familienabends" sein, befand der Bayerische Rundfunk. Hess versuche, "eine Brücke zu bauen: von einem moralischen Nullpunkt in eine lebbare Gegenwart", schrieb die "FAZ". Und die "Jüdische Allgemeine" pries die "glaubhafte Darstellung einer deutschen Gesellschaft zwischen Piefigkeit und boomender Aufbruchsstimmung, in der die überfällige Konfrontation mit der bequem ausgeblendeten Vergangenheit des Dritten Reichs vielfach schockartige Wirkung hat".
Man kann also froh sein, dass Hess, die ihren Roman eigentlich nicht verfilmt sehen wollte, sich von Gaumont-Chefin Sabine de Mardt doch überzeugen ließ und dann auch gleich das gesamte kreative Kommando übernahm. Die hierzulande gern inflationär gebrauchte Jobbezeichnung "Showrunner" ist bei Annette Hess jedenfalls in besten Händen. Die "Kudamm"- und "Weissensee"-Erfinderin ist eine der ganz wenigen deutschen Drehbuchautorinnen, die wirklich wissen, wie man solch umfassende Verantwortung ausfüllt und nicht nur nach vordergründiger Ausdehnung der Einflusszone drängt. Sie fordert und liefert – fast bis zur Selbstausbeutung. Gleichzeitig nutzt sie, die Gestandene und allseits Gefragte, die Macht ihres Wortes, um auch jüngeren und weniger bekannten Autorinnen und Autoren zu besseren Arbeitsbedingungen zu verhelfen.
Immerhin zählte sie zu den Gründungsmüttern der Initiative "Kontrakt 18" und engagiert sich bis heute im Deutschen Drehbuchverband (DDV), der Anfang des Jahres aus der Fusion von Kontrakt 18 und VDD entstand. Ihren Einsatz für mehr Transparenz und fairere Vergütung illustrierte sie gegenüber der "SZ" mit eigener leidvoller Erfahrung: "Zu einer meiner Serien, die auf der halben Welt streambar ist, habe ich gerade – auf mehrfache Anfrage meiner Agentin – die Abrechnung erhalten. Auf einer einzigen Seite werden hier Produktionskosten und Gewinne so heruntergerechnet, dass am Ende für mich eine Null herauskommt." Dazu passt die sympathisch ehrliche Aussage, die im DWDL.de-Interview fiel, wenige Tage vor der Premiere von "Deutsches Haus" bei, nun ja, einem Streamer: "Ganz ehrlich: Ich finde diese Geheimniskrämerei der Streamer ätzend."
Wenn Deutschland "nur im Geringsten dazu neigen würde, seine Drehbuchautoren zu feiern, dann wäre Annette Hess nicht nur der Branche ein Begriff, sondern ein Star", schlussfolgerte Claudia Tieschky unlängst in ihrem "SZ"-Porträt. Das mag durchaus sein. Wir feiern Annette Hess auch so – für ihre unverzichtbare Serie, deren diskursive Aktualität selbst eine geniale Macherin wie sie nicht voll absehen konnte, und für ihren ebenso unverzichtbaren Part im Streben nach einer etwas ehrlicheren, gerechteren, vernünftigeren Fiction-Branche.