So geht die Exposition einer Traumrolle: Erst wird sie heimlich zum West-Berliner Klassenfeind geschickt, um dort einen Unbekannten in der Diskothek mit vergiftetem Kokain zu beseitigen. Dann sitzt sie nach getaner Arbeit zu Hause vorm Schwarzweiß-Fernseher, schaut "Sandmännchen" und mampft Erdnussflips. Kleo Straub ist Ende der 80er eine inoffizielle Killerin im Auftrag von Erich Mielkes HVA – und im Herbst 2022 eine weibliche Hauptrolle, die ganz anders ist als das, was das deutsche Fernsehen seinen Top-Schauspielerinnen sonst so anzubieten hat.
"Dies ist eine wahre Geschichte. Nichts davon ist wirklich passiert", lautet die Schrifttafel zu Beginn der Netflix-Serie "Kleo". Auch die Figur Kleo würde es also nicht geben, wenn die HaRiBos – das Autorentrio Hanno Hackfort, Richard Kropf und Bob Konrad – sie nicht erfunden hätten. Und doch erweckt Jella Haase die Rolle acht Folgen lang mit solcher Fulminanz zum Leben, dass sie dabei ihren ganz eigenen, ebenso eindringlichen wie durchgeknallten Wirklichkeitskosmos erschafft.
Man tritt der 30-jährigen Berliner Schauspielerin wohl nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass das ganz große Mainstream-Publikum sie seit nahezu einer Dekade vor allem mit der Chantal aus "Fack ju Göhte" 1, 2, 3 in Verbindung brachte. Was sie sonst noch kann, bewies sie etwa als junge Katharina Thalbach in Andreas Kleinerts "Lieber Thomas", jener Rolle, die ihr dieses Jahr den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Nebenrolle einbrachte. In der Wahrnehmung der deutschen – und internationalen – Zuschauer dürfte Kleo neben ihren zahlreichen Rachemorden nun auch die ewige Chantal ausgelöscht haben.
Jella Haase sorge "ganz maßgeblich dafür, dass 'Kleo' kein eindimensionales Gemetzel ist, weil der krasse Wechsel zwischen absoluter Unschuld und wütender Killerin so gut gelingt und uns als Publikum immer wieder zweifeln lässt, ob man ihr wirklich uneingeschränkt die Daumen drücken sollte", urteilte das Medienmagazin DWDL.de. Die "Welt" schrieb von einer "glücklichen, geradezu kindlichen Killerin" und bescheinigte Haase, sie könne "in Millisekunden von Göre auf Grandezza schalten". Laut "Süddeutscher Zeitung" changiert sie "so mühelos zwischen Killerin mit Kindchenschema und enttäuschter Frau, dass man sie sofort anheuern würde, gesetzt den Fall, man gedächte, jemanden zu liquidieren". Und der britische "Guardian" rückte sie gar anerkennend in die Nähe der Gewalt liebenden Ästhetin Villanelle aus "Killing Eve".
Wie Kleo nach dem Zusammenbruch der DDR wild, stylish und rachemordend durch die Lande zieht, um ihre alte Stasi-Hierarchie bis hoch zu Mielke zu erledigen, hat Haase schon in der Vorbereitung aktiv mitgestaltet. Dabei sei Katarina Witt eine wichtige Inspiration gewesen: "Ich hab' ein bisschen in ihrem Ehrgeiz, ihrer Disziplin und auch in ihrer Korrektheit ein Rollenvorbild gesucht", erzählte Haase im Bayerischen Rundfunk. "Oder ich hab' gesagt, Kleo, die will ja eigentlich diesen Beruf nicht weiter machen, die geht in die Kaderschmiede für Eiskunstlauf, solche Sachen. Dann stellt sie sich ja einmal auch als Katharina Litt vor." Um sich körperlich auf die unzähligen Actionszenen vorzubereiten, ließ Haase sich von ihrer Personal Trainerin auf Spielplätze zerren, wo sie üben musste, möglichst schnell auf Klettergerüste rauf und wieder runter zu kommen. Es sei hart gewesen, das durchzuhalten. "Manchmal, wenn ich heute joggen gehe, ist Kleo plötzlich wieder da – dann spüre ich ihre Stärke immer noch."
Schon in der ersten Woche schaffte "Kleo" es weltweit auf Platz vier der meistgesehenen nicht-englischsprachigen Netflix-Serien – mit 21,6 Millionen gestreamten Stunden. Einen Monat später stand fest, dass der Streaming-Dienst sie in eine zweite Staffel schickt. Richtig so. Wir können es kaum erwarten, Jella Haase weiter beim Morden zuzusehen. Bei wem ihr Feldzug dann weitergeht, dürfte noch spannend werden. Allen, die "Kleo" noch nicht kennen, sei sie als sicheres Rezept gegen allzu besinnliche Feiertage empfohlen.