Als die junge Frau an einem Dezembermorgen 1995 ihr Haus verlässt, um sich auf den Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle zu machen, hat sie noch keine Vorstellung davon, was passieren wird. Alles wirkt wie immer, wie ein normaler Tag. Erst viel später werden wir wissen: Auf diesen ersten Tag werden für Ina-Maria Reize-Wildemann mehr als 27 Jahre als Chefredakteurin der einst von Eduard Zimmermann gegründeten Produktionsfirma Securitel folgen - und der Fall ist auch noch nicht abgeschlossen. Auf sachdienliche Hinweise, wie dieser anhaltende Erfolg von „Aktenzeichen XY“ gelingen konnte, haben seit Jahren schon viele Konkurrenzsender Belohnung ausgesetzt.
„Aktenzeichen XY“ ist der vielleicht außergewöhnlichste Quoten-Erfolg im deutschen Fernsehen, weil die ZDF-Sendung sich kontinuierlich weiterentwickelt hat und so auch 55 Jahre nach der Premiere ein beispielloser Erfolg ist, der Gesamtpublikum wie auch junge Zuschauerinnen und Zuschauer gleichermaßen anzieht. Mit regelmäßig mehr als fünf Millionen Zuschauern erreicht die Sendung am Mittwochabend mehr Publikum als fast alle Sender des deutschen Privatfernsehens - und auch noch Marktanteile von aktuell bis zu 19,0 Prozent bei den 14- bis 49-Jährigen. Damit ist die von Ina-Maria Reize-Wildemann verantwortete Sendung neben „Heute Show“ und „ZDF Magazin Royale“ eine der jüngsten erfolgreichen Sendungen im ZDF-Programm. Sechs der zehn stärksten Marktanteile beim jungen Publikum aus den letzten zehn Jahren wurden 2022 erzielt.
Ein Erfolg mit Folgen: Inzwischen hat das ZDF die Möglichkeiten der Marke „Aktenzeichen XY“ für SpinOffs entdeckt, den Ableger „XY…gelöst“ am Freitagabend und den Podcast „Aktenzeichen XY … Unvergessene Verbrechen“ gestartet. Wenn es nach Programmdirektorin Nadine Bilke geht, könnte sogar noch mehr werden aus der „Aktenzeichen“-Markenwelt. Der Reiz von True Crime scheint ungebrochen, doch für Ina-Maria Reize-Wildemann hat der Erfolg auch mit der Liebe der Deutschen für Krimis zu tun: „Man erlebt, wie Unrecht geschieht, aber eben auch, wie jemand sich darum kümmert und verspricht, dran zu bleiben und so die Balance zwischen Unrecht und Recht wieder herzustellen“, erzählte sie DWDL im Sommer.
True Crime gilt seit einigen Jahren international als Trendgenre. Ein Hype der sich ziemlich genau auf die Jahre 2015/16 zurückverfolgen lässt als einerseits der Podcast „Serial“ zum Erfolg wurde und Netflix seine Doku-Serie „Making a murderer“ veröffentlichte. Die Unglaublichkeit der Realität verlockte und die Suche nach noch nicht erzählten Fällen führte seitdem zu vielen Folge-Formaten, nicht nur bei Netflix. Keine Fernsehmesse, kein Kongress, der seitdem nicht die Erfolge von True Crime analysiert und Perspektiven erörtert. Dabei ist das Genre nicht neu, wie „Aktenzeichen XY“ beweist. Der ZDF-Klassiker profitiert von der neu entflammten Faszination des Realen insbesondere beim jüngeren Publikum.
Von dem Hype um oft in Serienlänge ausgebreiteten Fällen unterscheidet sich „Aktenzeichen XY“ jedoch in einem entscheidenden Fall. „Bei ‚Aktenzeichen‘ darf nie vergessen werden, dass wir eine Aufgabe haben – das ist der Kernunterschied. Wir stellen Know-How, Können und Publikum den Ermittlungsbehörden zur Aufklärung zur Verfügung. Das ist eine große Aufgabe, die uns über all die Jahre getragen hat“, sagt die (un)heimliche Quoten-Queen Ina-Maria Reize-Wildemann. „Wir machen nichts zur Belustigung und weil wir gut Krimis erzählen können, sondern wir verfolgen einen bestimmten Zweck, nämlich die Aufklärung von Verbrechen zu unterstützen.“ Damit rückt die Sendung auch sehr nah an den öffentlich-rechtlichen Auftrag heran.
Dass die Privatsender bislang an jedem Versuch, den ZDF-Erfolg zu kopieren, gescheitert sind, wundert Reize-Wildemann übrigens nicht: „Die Inhalte einer Fahndungssendung sind schwer mit den Interessen der Werbewirtschaft vereinbar. Wer schaltet Werbung nach echtem Mord und Totschlag? Das ist schwierig. Zum anderen haben wir eine lange gewachsene und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Polizei. Das lässt sich nicht von heute auf morgen kopieren.“ Das macht „Aktenzeichen XY“ einzigartig mit einem aktuell besonders bemerkenswerten Erfolg in allen Altersklassen - und aus der seit 27 Jahren amtierenden Redaktionsleiterin Ina-Maria Reize-Wildemann stellvertretend für das Team eine Bildschirmheldin 2022.