„Cringe“ ist ein Wort, dass Leute, die es sind, besser mal nicht aussprechen, sonst wird es bodenlos, ein Wort, das man sich als Teil der Generation X bis Golf ebenfalls verkneifen sollte, um in der Generation Y bis Z nicht als sus zu gelten, was Eltern tendenziell mit „verdächtig“ übersetzen, womit wir am Ende eines Schachtelsatzes bei drei Schulfreunden aus Hamburg sind, die aus ihrer langjährigen Erfahrung als Youtuber wissen, „wie oft Unternehmen beim Versuch, den Ton unserer Generation zu treffen, daneben liegen“.
Antwort: fast immer. Cringe!
Gediegener trifft ihn da deren Web-Serie „Intimate“ über hanseatische Adoleszenzverweigerer um den Schauspieler Bruno Alexander – zuletzt als Becker-Double im Biopic „Der Rebell“ zu sehen – sowie die Zwillinge Oskar und Emil Belton. Hunderttausendfach wurden ihre autobiografisch geprägten Furzkissenwitze seit 2018 pro Folge abgerufen, was Gastauftritte von Til Schweiger bis Katharina Schüttler nach sich zog und irgendwann den Anruf eines heiß ersehnten Edelfans: Christian Ulmen.
Anders als vom multitaskingfähigen Trio vor, hinter, neben der Kamera erhofft, macht der selbstironischste aller deutschen Realsatiriker aus „Intimate“ zwar kein Fernsehformat à la „jerks“. Dafür bietet er ihnen was viel Besseres an: „Die Discounter“, eine Art Einzelhandelsstromberg, wofür der Profi den Rookies völlig freie Hand lässt. Mittlerweile mit eigener Produktionseinheit namens „Kleine Brüder“, erledigen die Selfmade-Showrunner Bruno, Oskar und Emil von Buch, Regie und Schnitt bis in Alexanders Hauptrolle als Supermarktverkäufer Titus alles selber – und sorgen damit für Jubelstürme im Feuilleton.
Das Improvisationstheater um die Belegschaft eines fiktiven Nahversorgers am Rande ihrer Heimatstadt ging Mitte Dezember 2021 online und war in den folgenden Monaten derart erfolgreich, dass Amazon Prime sein abseitiges Premiumprodukt nicht mal ein Jahr später mit zweiter Staffel fortgesetzt hat. Und wieder ist die allenfalls grob gescriptete Persönlichkeitsstudie des inkompetenten Marktleiters Thorsten (Mark Hosemann) und seiner unterbezahlten Crew unterschiedlich scheiternder Wohlstandsverlierer bei Feinkost Kolinski auf so wahrhaftige Art surreal, dass es beim Lachen wehtut. Also andauernd.
Das selbstüberschätzte Alphatier Peter, die verklemmte Filial-Organisatorin Pina, der durchsetzungsschwache Ladendetektiv Jonas oder Nura Habib Omer als ordinäre Kassiererin mit verhinderter HipHop-Karriere: sie alle sind gleichermaßen zauber-, glaub- und grauenhaft, also absolut authentische Karikaturen eines sozial verwahrlosten, aber auf seltsame Art stressresilienten Brennpunktes, in dem alle Protagonisten schon deshalb so real wirken, weil die drei kreativ Zuständigen dahinter ihnen – also sich – nie den Mund verbieten.
Rasselbandenchefs wie Jan Georg Schütte oder Christian Ulmen haben diese Art anarchistischer Nischenunterhaltung so fernsehpreiswürdig improvisiert, dass nicht nur Amazon Prime Berufsjugendliche Anfang 20 mit stattlichen Budgets ausstattet; auch ProSieben hängt sich gerade ans Erfolgsrezept der Kleinen Brüder und setzt „Intimate“ fürs eigene Streamingportal joyn fort. Welch ein Aufstieg dreier Autodidakten, die es trotz Absagen diverser Schauspielschulen in Fiktionen vom Kinderkrimi „Pfefferkörner“ bis zur Hochglanzserie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, vom Rentnerkrimi „SOKO“ bis zum dänischen Oscarbeitrag „Unter dem Sand“ geschafft haben.
Alles Mainstream, aus Sicht von Seitenarmpaddlern wie Oskar Belton also „die Unterhose der Gesellschaft“, wo er und seinesgleichen zwar fleißig Witze suchen, dabei anders als Dieter Nuhr oder Mario Barth aber respekt-, verantwortungs-, ja liebevoll bleiben. Vielleicht muss man dafür am Abgrund asozialer Medien aufgewachsen sein, vielleicht muss man ihn aber auch nur so furchtlos ausloten wie Bruno, Oskar und Emil – drei Bros alter junger Schulfreunde im Seniorenstift der Unterhaltungsindustrie, das sich nahtlos in den Kanon der Wunderkinder einreiht, die als Kids schon Romane (Nick McDonell), Platten (Billie Eilish), Filme (Helene Hegemann) von Belang kreiert haben. Drei Brüder zur Sonne zur Freiheit, die sich auf dem Weg dorthin nie überschätzen. Nicht mehr als nötig zumindest, um durchzubrechen.