Diese Szene wäre wohl bei den meisten Reportagen im deutschen Fernsehen dem Schnitt zum Opfer gefallen: Da steht ein ratlos wirkender Thilo Mischke im Deutschen Bundestag, dem sichtbar die Worte fehlen. Gerade eben hatte ihm die rechtsgerichtete Youtuberin Lisa L. vor laufender Kamera unter Tränen offenbart, dass sie begriffen habe, wie gefährlich ihr Tun sei. Und der Reporter wartet ab, schweigt eine Weile, beobachtet seine aufgewühlte Gesprächspartnerin, lässt sie nicht allein. Diese sehr ruhigen und dabei intensiven Sendeminuten aus der Reportage "ProSieben Spezial: Rechts. Deutsch. Radikal." machen deutlich, was Mischkes Arbeit so besonders macht.
Der Enddreißiger erzählt eine andere Art von Filmen. Die Beiträge widersprechen schon einmal dem, was der Journalismus lehrt. Thilo Mischke verzichtet auf Distanz und macht sich "gemein" mit den Interviewten. Er lässt sich auf die Lebenssituation der anderen ein, drängt sich aber nicht auf. Der Reporter lässt dem Wort Zeit und Raum, auch wenn der Absender nicht den gängigen gesellschaftlichen Normen entspricht.
Strumpfsockig und auf dem Bett sitzend, gelingt Thilo Mischke in der Reportage von "Von Armut bedroht" ein tiefschürfendes Gespräch mit einem Betroffenen, wo das übliche Berichten über Betroffene der Problematik längst nicht mehr gerecht wird. Es ist auch dieser dichten und unaufgeregten Erzählweise zuzuschreiben, dass das "ProSieben Spezial: Deutsche an der ISIS-Front" den Bayrischen Fernsehpreis gewonnen hat.
Thilo Mischke trifft mit Themen und Erzählform einen Nerv. Gerade jüngere Zielgruppen haben Interesse an gesellschaftlich relevanten Entwicklungen wie rechter Gewalt, Terrorismus oder Diversität in der Gesellschaft. Nur eben nicht präsentiert in der üblichen TV-Optik, sondern auf Augenhöhe mit den Interviewten, ohne Mikro in der Hand. So hält es Mischke, meist in Jeans und Kapuzenpulli vor der Kamera, aber immer gut vorbereitet. Heraus kommt eine Art Erlebnisbericht, bei dem der Fernsehmacher authentisch wirkt. Erzählen, was ist. Man muss nicht einer Meinung sein, um eine gemeinsame Gesprächsebene zu haben. Die Einordnung erfolgt im Zwiegespräch, Mischkes Zeigefinger bleibt unten.
Dennoch gelingt Thilo Mischke die Gratwanderung. Weil seiner Art des Erzählens auch die Chance innewohnt, dass sich Missstände selbst entlarven. Nehmen wir das Zwei-Stunden-Stück "Rechts.Deutsch. Radikal.". Über so einer Produktion schwebt die Frage: "Darf man Rechtsnationale zu Wort kommen lassen?". Mischkes Antwort fiel positiv aus. Mit der Folge, dass die AfD noch vor Ausstrahlung zur besten Sendezeit bei ProSieben einen Spitzenfunktionär entlassen hat; undercover gedrehte Szenen hatten Demokratiefeindliches offenbart. So eine nachhaltige Wirkung hat in den vergangenen Jahren keine andere politische Reportage im deutschen Fernsehen entfaltet.
Das gesellschaftliche Potenzial von Thilo-Mischke-Werken hat sein Haussender ProSieben erkannt. Anders kann auch nicht erklärt werden, warum ein werbefinanziertes Medium im wirtschaftlich flauen Corona-Jahr mit der spontanen Programmierung von "Rechts. Deutsch. Radikal." auf zwei Stunden Umsatz zur Primetime verzichtet hat. Im Nachhinein wissen wir, dass das werbefreie Event für den Münchner TV-Kanal Imagewerbung vom Feinsten war – aus den richtigen Gründen. Hoffentlich auch eine Ermutigung, dem Reporter noch öfter freie Hand zu lassen. Klimawandel, Corona-Krise, Bundestagswahl: Das sind nur einige der großen Themen, die Thilo Mischke im kommenden Jahr auf seine Art erzählen könnte. Indem er sie persönlich nimmt.