Ingo Zamperoni musste eigentlich gar nicht mehr beweisen, dass er ein Lotse in stürmischer See ist. Schon lange vor Beginn der Corona-Krise Mitte März - und seither erst recht - ist er der Nachrichtenmann, der uns selbst die schlechtesten News mit der größten Ruhe und nötigen Nüchternheit einordnet. Der als „Mister Tagesthemen“ nach 22 Uhr im Ersten die richtigen Fragen stellt und uns schon einmal augenzwinkernd mit einem witzigen Schlusssatz die Schwere des Tages nimmt.
Dann kam die US-Wahl und mit ihr ein nie erlebter medialer Trubel. Selbst deutsche Medien kannten vor dem Wahltag am 3. November kaum mehr andere Themen als das Spitzenduell zwischen dem bisherigen US-Präsidenten Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden. Der zuweilen einseitigen deutschen Sicht auf die republikanische Wählerschaft hinter Donald Trump setzte der „Tagesthemen“-Hauptmoderator das richtige Mittel entgegen: Er öffnete für die Zuschauerinnen und Zuschauer die Tür zu seinem Privatleben.
Wie zerrissen Land und Leute sind, brachten uns Ingo Zamperoni und Co-Autorin Birgit Wärnke in eine Art Reisereportage über die USA nahe. Gemeinsam mit seiner amerikanischen Frau besuchte der ARD-Journalist dafür wenige Wochen vor der Wahl seine Schwiegereltern in den Vereinigten Staaten, um mit ihnen am Essenstisch oder im Deckchair über Politik zu reden. Mit dem Schwiegervater, einem treuen Anhänger republikanischer Werte, und mit seiner geschiedenen Frau, die ebenso wie die gemeinsame Tochter Demokratin ist. Es entstand ein sehr persönliches Porträt über eine Familie, die über Donald Trump so gespalten ist wie das Land.
Da war er dann wieder, der unerschütterliche Anchor - trotz des intimen Einblicks in seine eigene Familie: Zur besten Sendezeit lotste Ingo Zamperoni am Tag vor der großen Abstimmung in "Trump, meine amerikanische Familie und ich" mehr als vier Millionen deutsche Zuschauende klug an die US-Wahl heran. Machte mit Fragen nach den Sorgen des Schwiegervaters klarer, warum Republikaner lieber die Kröte Donald Trump schlucken, als konservative Werte aufzugeben. Zeigte auf, wie sehr sich Demokraten grämen, weil sie die weitere Spaltung der Gesellschaft fürchten. Und ließ das Publikum hierzulande mit dem Eindruck zurück, dass das US-amerikanische Zwei-Parteien-System Ursache für die tiefe Kluft im Volk ist und der polarisierende bisherige Staatschef nur das omnipräsente Symptom.
Was bleibt zurück?
Auf jeden Fall ein tieferes Verständnis dafür, warum mehr als 70 Millionen US-Amerikaner eine Partei wählen, an deren Spitze Donald Trump steht. Vorbildlich ist auch Ingo Zamperonis Haltung, die immense Zustimmung vieler US-Amerikaner zur Person Trump zu verstehen, ohne Verständnis für dessen Verhalten aufzubringen. Eine Haltung, die wir noch brauchen werden: Mit dem Machtwechsel im Weißen Haus im Januar wird der Trumpismus nicht verschwinden. Er wird der Welt noch viel Geduld abnötigen.
An die ARD gerichtet bleibt der Wunsch nach Mehr. Mehr Zamperoni, mehr Einblicke dieser Art, mehr TV-Gesichter mit multikulturellem Hintergrund, wie ihn der „Tagesthemen“-Anchorman mit deutsch-italienischen Wurzeln und amerikanischer Verwandtschaft mitbringt. Diversere Redaktionen sorgen für unterschiedliche Blickwinkel und damit für ein realistischeres Bild der Welt. Ingo Zamperonis ARD-Beitrag zur US-Wahl ist ein perfektes Beispiel dafür.