Es ist noch gar nicht allzu lange her, da hatte man das Gefühl, immer wenn man ProSieben einschaltete, waren die Nerds längst da. Und wenn nicht gerade "The Big Bang Theory" lief, dann eben "Two and a half Men", "How I Met Your Mother" oder "2 Broke Girls". Ein Programm auf dem Weg zum Sitcom-Nischensender, ätzten auch wir damals, sicherlich mit leichter Übertreibung. Das waren zwischenzeitlich extreme Auswüchse, doch schon immer war US-Lizenzware bei keinem anderen großen Sender so sehr in der DNA verankert wie bei ProSieben. Dass diese im Free-TV in Streaming-Zeiten und angesichts der gigantischen Serien-Flut immer schlechter funktioniert, stellte ProSieben daher auch vor besonders große Herausforderungen. Doch womöglich war das auch ein Glücksfall, der passende Antrieb zur rechten Zeit - denn der Sender zeigt sich derzeit so lebendig wie lange nicht mehr.
"Mehr ProSieben von ProSieben auf ProSieben" lautet das Motto, das Senderchef Daniel Rosemann im letzten Jahr ausgegeben hat. Er leitet seit mittlerweile viereinhalb Jahren die Geschicke des Senders und hat es in dieser Zeit geschafft, ProSieben erheblich breiter aufzustellen. Zurück vom Sparten- zum Vollprogramm gewissermaßen. Was sich in den letzten Jahren schon angedeutet hat, wurde 2020 endgültig offenbar: Dieser Fernsehmacher hat Sendungsbewusstsein. "Wir erhöhen seit einiger Zeit die Relevanz von ProSieben, setzen mit Recherchen und Reportagen Themen für Deutschland", erklärte Rosemann vor einigen Monaten im DWDL-Interview.
Reportagen zur Primetime statt am Programmrand
Und so lief eine der meistdiskutierten Reportagen dieses Jahres bei ProSieben. Thilo Mischkes Einblick in die rechte Szene und ein Zitat eines damaligen AfD-Pressesprechers sorgten für Schlagzeilen und Gesprächsstoff. Verantwortlich dafür war neben Mischkes Arbeit auch die Bereitschaft von ProSieben, ihm dafür die Primetime freizuräumen. Nicht Programmrand, nein: 20:15 Uhr. Auch "Black Lives Matter" oder Armut in Deutschland beleuchtete man zur besten Sendezeit, im letzten Jahr auch schon brennende Wälder und den Klimwandel oder ISIS. Und dann lotste Rosemann ja auch noch Jenke von Wilmsdorff zu ProSieben. Aufmerksamkeitsstark war sein Aufschlag mit dem Schönheits-Experiment fraglos - nun darf man gespannt sein, was noch nachkommt. ProSieben setzte damit zuletzt immer wieder selbstbewusst Themen, auch über Corona hinaus, das man aber mit einem Talk in der Primetime ebenso behandelte wie noch immer mit zwei kurzen täglichen Corona-Updates am Nachmittag und Vorabend.
Die breitere Aufstellung zeigt sich aber auch in anderen Bereichen. Als im Frühjahr die gemeinsam mit Joyn produzierten Comedyserien "Frau Jordan stellt gleich" und "Check Check" in der Primetime um 20:15 Uhr bzw. 21:15 Uhr liefen, da war das zwar aus Sicht linearer Quoten nicht gerade ein Erfolg, aber es war überhaupt das erste Mal seit elf Jahren, dass ProSieben sich überhaupt wieder an eigene Serien zur besten Sendezeit herantraute. Und auch eigenproduzierte Filme stehen inzwischen wieder auf dem Programm, mit "9 Tage wach" trat man selbstbewusst auf dem Hollywood-Blockbuster-Platz gegen den "Tatort" an. Es sind noch zarte Pflänzchen mit ausbaubarem Erfolg, dass sich auch hier etws tut, ist aber unverkennbar. Selbst Sport hat ProSieben wieder für sich entdeckt: Der - inzwischen ebenfalls von Daniel Rosemann verantworteten - Ableger ProSieben Maxx hat American Football aus der Nische herausgeholt, inzwischen hebt ProSieben den Sport immer wieder auch auf die größere Bühne.
Vom "ausgewiesenen Show-Experten" zum Allrounder
Dass sich ProSieben so entwickeln würde, war dabei keineswegs ausgemachte Sache. Als Daniel Rosemann 2016 zum Senderchef ernannt wurde, pries Wolfgang Link ihn vor allem noch als "ausgewiesenen Show-Experten", schließlich verantwortete er diesen Bereich bereits acht Jahre lang, nachdem er von der Produktionsfirma Tresor TV zu ProSieben gewechselt war. Und tatsächlich schien es bei seinem Amtsantritt die größte Baustelle, schließlich hatte im Jahr zuvor plötzlich Stefan Raab seinen Bildschirmabschied verkündet - jahrelang der enscheidende Kreativkopf bei den meisten großen Show-Events von ProSieben.
Fünf Jahre danach hat man längst nicht nur neue große Erfolg gefunden - man denke nur an "The Masked Singer", "Joko & Klaas gegen ProSieben" oder die Team-Edition des "Duell um die Welt" - es mangelt auch nicht an Experimentier- und Spielfreude. Der während Corona kurzfristig (gemeinsam mit Raab) aus dem Boden gestampfte "Free ESC", "Teddy gönnt dir", "FameMaker", "Die Show mit dem Sortieren", "Die Herz! Schlag! Show", "Wer schläft verliert!", "Wer sieht das denn?" oder auch "Balls - Für Geld mach ich alles": Die Liste neuer Shows, die allein in diesem so schwierigen Jahr gestartet wurden, ist lang - und schon Anfang Januar stehen mit "Pokerface" und "Wer stiehlt mir die Show?" die nächsten Neustarts vor der Tür. Keine Frage: Vieles davon war nicht der erhoffte Erfolg, manches nicht ausgereift, einzelnes sogar grenzwertig. Doch kein anderer Sender zeigte sich in diesem Bereich in den letzten Jahren so offen für Neues.
Alles zusammen ergibt das das Bild eines Senders, dessen Mann an der Spitze das Programm nicht nur verwaltet, sondern weiterentwickelt, für neue Farben öffnet und auch für wichtige Themen abseits der Unterhaltung nutzt. Der Claim von ProSieben mag seit 2003 unverändert "We love to entertain you" sein - der Anspruch des Senders und seiner Macher hat sich aber offenbar weiterentwickelt.