Viel Feind, viel Ehr – dieser Prämisse folgen heutzutage nur noch Oppositionsführer, Soldaten und Wachleute an Clubtüren, aber Naturwissenschaftler? Es müssen schon merkwürdige Zeiten sein, wenn Gelehrte Fachwissen auf Basis valider Forschung gewinnen und dafür von Verschwörungsideologen, Querdenkern und anderen Realitätsverweigerern in Haft, schlimmer noch: an den Galgen gewünscht werden. Genau das aber ist Christian Drosten passiert, und ehrlich: wer solche Menschen zum Feind hat, kann in Ehre förmlich baden. Falls er das denn wollte.
Will er aber gar nicht.
Im Gegenteil: Seit sich Deutschlands bekanntester Virologe, als Institutsleiter der Berliner Charité auch international von exzellentem Ruf, Anfang 2020 ins Rampenlicht der Medienrepublik begeben hat, ist er zwar zum Superstar einer öffentlichkeitscheuen Branche aufgestiegen; dass es ihm dabei ums eigene Image ging, scheint indes ausgeschlossen. Und das will schon was heißen bei einem Mann, dessen französisch verwahrloster Wuschelkopf zum norddeutsch gefärbten Zungenschlag nicht nur bei Best-Agern Schnappatmung auslöst.
Am 22. Januar, hierzulande heißt SARS-CoV-2 da noch räumlich distanziert Wuhan-Virus, schaltet ihn Caren Miosga erstmals live in die "Tagesthemen" und lässt sich das Gruselwort "Pandemie" definieren. Drei Tage nach der deutschen Infektionspremiere, erklärt er Jörg Thaddeus beim "Talk in Berlin" seinen Corona-Test. Ende Februar, Covid-19 gilt immer noch als chinesisches, nicht pandemisches Problem, geht sein NDR Info-Podcast "Coronavirus-Update" auf Sendung. Und als er Maybrit Illners Runde tags drauf im resoluten, aber angenehm ruhigen Sturm erobert, wird der mitteilsame Mahner so durch die Sitzgruppen des Laberfernsehens gesendet, dass es dem "Tagesspiegel" Mitte März eine Mitteilung wert ist, Drosten habe nicht in der Talkshow von gestern gesessen.
"Da bin ich kein Experte"
Christian Drosten
Dabei sind es weder Präsenz noch Kompetenz allein, die ihn zur lautesten Flüstertüte einer Gesellschaft machen, deren verblüffende Empathie bald schon im Geiferregen populistischer Egoisten stand; "Drosti", wie er von Fans genannt wurde, nahm den vernunftbegabten Teil der Bevölkerung für sich ein, weil er die Wissenschaft so bescheiden gegens wachsende Wunschdenken der Wahrheitsmüden verteidigt und Fakten gegen Raunen. Sein Lieblingssatz zahlloser Sendungen zu Fragen, bei denen er definitiv ein Experte ist, lautet: "Da bin ich kein Experte".
Das heißt aber keineswegs, sein akademisches Selbstwertgefühl könne bei aller Demut nicht auch mal austeilen. Ganze drei Worte nur brauchte er gerade, um eine Pöblerin, die auf Twitter lebenslange Haft für ihn forderte, kurz gesundzuschrumpfen. "Oh Mann, Angelique!" tweetete er zurück, was allerdings nur deshalb authentisch wirkte, weil er mindestens ebenso häufig "Oh Mann, Christian!" sagt und der Alltagssprache damit etwas hinzuzufügt, das zuvor nur an der Spitze des Elfenbeinturms gebräuchlich war: Falsifikation, Versuch und Fehler, die Basis aller Erkenntnisgewinne.
Wie alle ernstzunehmenden Wissenschaftler, irrt sich ja auch dieser hier ständig und steht sogar dazu. Mit dem Unterschied, dass Christian Drosten vor aller Augen irrt und sein Publikum damit vom Bösen einfacher Lösungen für komplizierte Sorgen befreit. Wenn man ihn denn lässt. Dass ihn Menschen wie Ohmann-Angelique nicht lassen, hat deshalb mit dem Vorsorgedilemma zu tun, dafür kann er nichts. Dass der Rest die Pandemie ein bisschen besser versteht, erträgt, womöglich übersteht, dafür kann er hingegen viel: das Unerklärliche erklärbar zu machen, also Herrschaftswissen allgemeinverständlich. Charmante Belehrung mit gesenktem Zeigefinger und fotogenem Dackelblick – wäre Christian Drosten nicht so selbstgenügsam, er hätte das Zeug zum Eckart von Hirschhausen. Zum Glück ist ihm die Forschung wichtiger. SARS-CoV-2 wird nicht die letzte Pandemie bleiben.