Erinnern Sie sich noch, wie Anfang des Jahres das ganze politische Deutschland auf dem Kopf stand? Nicht wegen Corona, sondern wegen Thüringen. Damals war FDP-Politiker Thomas Kemmerich im Landtag von Erfurt mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Er nahm die Wahl an und tat so, als ob das ein völlig normaler Vorgang sei. Eine, die einen ziemlich nüchternen und klaren Blick auf die Sache hatte, war damals Marietta Slomka, die Kemmerich noch am Abend seiner Wahl im "heute journal" des ZDF interviewte.

Und wahrscheinlich hatte der FDP-Politiker zuvor noch kein Slomka-Interview gesehen, sonst wäre er nicht so unvorbereitet in die Sendung gegangen. Damals ging er aber wohl noch davon aus, er könne Ministerpräsident bleiben. Slomka fragte immer wieder nach, ob er tatsächlich nichts von dem drohenden AfD-Manöver gewusst habe und weshalb er die Wahl nicht einfach abgelehnt habe. Sie fragte auch, ob Kemmerich denke, dass er den Wählerwillen verkörpere. 

Einen Tag später stellte sich dann FDP-Chef Christian Lindner den Fragen der ZDF-Journalistin - und auch der wandte sich wie ein Aal und verstieg sich in der inzwischen legendären Aussage, seinen Parteikollegen habe es offensichtlich "übermannt". Auftritt Slomka: "Wenn es um das Amt des Ministerpräsident geht, ist das doch kein Spiel, bei dem man mal ebenso übermannt wird?".

Keine Chance für PR-Floskeln

Diese Interviews sind beispielhaft für das Vorgehen von Marietta Slomka. Die Journalistin lässt ihre Gesprächspartner nicht mit Plattitüden oder PR-Floskeln durchkommen. Slomka unterbricht ihre Gäste auch schon mal, wenn sie drohen zu weit abzuschweifen. Dabei ist sie keineswegs unfreundlich oder respektlos. Slomka bemüht sich um Antworten und wenn sie keine erhält, stellt sie die Frage einfach nochmal. Das fühlt sich für viele Gesprächspartner unangenehm an, es ist aber genau das, wovon es mehr geben sollte - gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Marietta Slomka © Screenshot ZDF Marietta Slomka im Interview mit dem damaligen Ministerpräsident von Thüringen, Thomas Kemmerich (FDP)

Manchmal kann man Slomka die Freude ansehen, wenn sie weiß, dass jetzt gleich wieder eine Antwort eines Politikers kommt, die ihm oder ihr vermeintliche PR-Strategen ins Handbuch geschrieben haben. Aber auch die Kommunikations-Nebelkerzen kann Marietta Slomka präzise identifizieren und als solche benennen. Davon kann übrigens auch Sigmar Gabriel ein Lied singen.

Wenn Interviews im deutschen Fernsehen in Erinnerung bleiben, laufen sie sehr oft im "heute journal" des ZDF. Und meist sitzt dann eben Marietta Slomka vor den Kameras. Für ihre Leistungen wurde die Journalistin in diesem Jahr übrigens mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie "Beste Moderation / Einzelleistung Information" ausgezeichnet. Schon 2018 erhielt sie diese Ehrung. Von DWDL.de auf ihre wichtigste Interview-Regel angesprochen, antwortet Slomka: "Sehr gut vorbereitet sein - aber dann auf keinen Fall aufgeschriebene Fragen 'ablesen' beziehungsweise 'abarbeiten', sondern frei aufspielen, zuhören und spontan reagieren."

Ich stelle nur öffentliche Kommunikation her.
Marietta Slomka

Trotz ihrer in der Sache harten Interviewführung weiß auch Slomka, was Politiker leisten - gerade in Zeiten von Corona. Gegenüber der "Zeit" erklärte sie vor einigen Monaten, dass Politiker oft zu wenig Anerkennung erhielten. Ihre eigene Rolle will sie nicht zu hoch bewerten. "Ich stelle nur öffentliche Kommunikation her", so die Journalistin, die sich aber nicht als eine Art "weißen Hai" sieht. Slomka: "Vielleicht Nemo, der Clownsfisch mit den großen, wachsamen Augen, der den Betrieb stört." Und ob nun Weißer Hai oder Nemo: Marietta Slomka ist eine Bereicherung für das deutsche Fernsehen und den Journalismus in diesem Land. Das hat sie auch 2020 wieder unter Beweis gestellt.