Was der Himmel mit ihm vor hat

Foto: sendungsbewusstseinManchmal begegnet man Ortsnamen, die es nur in Deutschland geben kann. Castrop-Rauxel ist so einer. Oder Villingen-Schwenningen. Oder Radevormwalde. Nicht selten sind die Bewohner dieser Ansiedlungen eigenwillige, stolze, im Ländlichen oft betagte Menschen, die die Söhne und Töchter ihrer Gemeinde in Ehren halten. Radevormwalde hat den größten Sohn der Stadt immerhin zwölf Jahre lang, bald 1800 Mal in seiner eigenen Fernsehsendung gesehen, die hieß wie er: Jürgen Fliege – „Fernsehpfarrer“, schallt es da, laut Umfragen aus dem Mund von rund 80 Prozent der Deutschen – Fliege, unumstritten das Gesicht des ARD-Nachmittages. Und abgesehen vom „Wort zum Sonntag“ vertritt er im manchmal parareligiösen Popanz des Fernsehens die Geistlichkeit im Alleingang.

Wenig ist von der Konkurrenz auf seinem 15.30-Uhr-Sendeplatz geblieben, auf dem er 1994 sein Debüt gab. So bot RTL Ilona Christen auf, Sat.1 zeigte schon mal „Bonanza“. Jürgen Fliege ging in seinem Bavaria-Studio in der Filmstadt Geiselgasteig in die Hocke, um auf Augenhöhe mit den Gesprächspartnern aus dem Publikum zu sein, und fragte nach Krankheit, Alter, Glauben, Heimat, Liebe und Familie. Eine „selbstverliebte Plaudertasche, die mit salbungsvollen Worten auf Menschenjagd geht“, wie ein große deutsche Fernsehzeitschrift schrieb, ein Menschenjäger, dem über ein Jahrzehnt eifrig zugesehen wurde.

Sich über Jürgen Fliege lustig zu machen, gehört seit seinem Start in dem Jahr, in dem Rudolf Scharping als Kanzlerkandidat der SPD scheiterte, zum guten Ton . Kalkofe freute sich über seinen „Dackelblick“ und fragte: „Ist Fliege doch ein Mensch?“, im Juli 1999 war er „Liebling des Monats“. Der Blogger David Harnasch ätzt: „Solange die ARD Geld für Jürgen Fliege hat, ist Harald Schmidt zu billig.“ Das Konzept „kritische Nachfrage“ habe keinen Eintrag in Flieges „mentalem Lexikon“, vermuten andere, und fordern: „Tüten wir Fliege als einen weiteren salbadernden Esoterik-Absahner ein“, er ist ja doch nur ein Pfarrer, „der mit seinem scheinheiligem Getue jeden Zuschauer in den Wahnsinn treibt“.

Das Material für die Tiraden hat Fliege großzügig geliefert. In seiner Schulzeit blieb der Legastheniker dreimal sitzen – damals der Worte nicht mächtig, entwickelte er sich in den Augen des kritischen Fernsehpublikums zum "Drosophilus megalolaber". Er wirft schon mal übermütig mit Rhetorischem um sich, moderiert mit einem beachtlichen Wortscheif, der durchaus hypnotische Fähigkeiten haben kann. Er richtet sich in den Worten und im Gestus des Pfarrers an Gäste, die das brauchen. Er präsentiert „Geistheiler“, geht dahin, wo es wehtut: In seiner Show reden Kranke, Verletzte, Verzweifelte.

Running Gag des Fliege-Spotts ist das Alter seines Studiopublikums. Während seine heutige Konkurrenz zwischen Courtshows und Reality-Schulklasse weiterhin auf die Zielgruppen-Willkür bis 49 setzt, bedient Fliege vor Ort und an den Bildschirmen gerne ältere Menschen, denen der Nachmittag frei steht, ihre Sorgen in der Kristallkugel des netten, wortgewandten Herrn Fliege zu spiegeln. Das gab den Anlass, von der Show der Zahnlosen zu sprechen, von der Gefahr, Todesfälle im Studio zu haben oder der Mär vom Ausflug der Münchner Seniorenresidenzen nach Geiselgasteig. Glaubt man auch nur annähernd an den Wirbel um die „neue“ Zielgruppe der „Whoopies“; dann hat Fliege alles richtig gemacht.


Einer, der sich den unbequemen Tatbeständen einer alternden Republik widmet, gerät leicht in das Abseits, in dem sich seine Gäste oft befunden haben. Glauben und Tod passen nicht ganz in den Fernsehnachmittag, Krankheit und Sinnsuche machen sich nicht gut zwischen Abschlussklasse und Barbara Salesch. Jürgen Flieges Image würde nie eine Chance haben in der Gemengelage, in der er antrat – und seine Quoten würden stets stehen. Soviel schien sicher. Bis sein Sendeplatz vorverlegt wurde und ihm ein wichtiger Teil seiner Zuschauer verloren ging. Eine Bloßstellung des Mannes, der jahrelang für stabile Zahlen gesorgt hat. Eine Selbstverständlichkeit für den Prügelknaben, der ja irgendwann doch gehen musste, weil er nie schick und selten kompakt war. Im Tabloid-Talk zwischen Kerner und der neuen Sat.1-Mischmaschrunde mit Bettina Rust muten Flieges Erzählstunden tatsächlich antik an.

Zuletzt hat Jürgen Fliege geschimpft, wenn es um die Zukunft seiner Sendung ging. Für das Hauptpublikum, „Frauen und alte Menschen“, sei „kein Geld da“. Noch bis Ende des Jahres wird er in seinem Studio in die Hocke gehen. Morgen wird er dort den 73-jährigen Max Lappe befragen, der seine Zwillingstöchter vor 44 Jahren zum letzten Mal gesehen hat, der bald sterben wird. Fliege wird ihm helfen und ihn auffordern: „Passen Sie gut auf sich auf“.

Die Seelsorge, der er sich gewidmet hat, wird im nächsten Jahr im Aufgabenfeld der ARD-Telenovela liegen. Als Nachfolgerin einer oft unterschätzten Sendung heißt sie ausgerechnet „Aschenputtel“. Ich wünsche der ARD, das sie damit abstürzt. Zu billig das Manöver, den alten Fliege, der ganz nebenbei viel humoristisches Potential hatte, gegen eine billig produzierte Augenwischer-Story auszutauschen. Ein frisches Tempo auf den Abgang des großen Jürgen Fliege. Sein Statement zur Absetzung:

„Ich habe immer gesagt, dass ich die Sendung so lange weiter mache, wie die Zuschauer, der Programmdirektor und der Himmel es wollen. Nachdem die Zuschauer der Sendung weniger wurden und der Programmdirektor entschieden hat, bin ich neugierig darauf, was der Himmel mit mir vor hat.“ So ein Satz wird ankommen, in Radevormwalde.