"Vorhin haben sich die Heuschrecken noch bewegt"

Was erlauben eigentlich Strunz? Erst denke ich, ich bin in einer der bizarren neuen Kochshows gelandet, hier scheint es heute lebende Heuschrecken zu geben, vielleicht kommt gleich Zacherl und übergießt sie mit einem Himbeersorbet. Aber dann sehe ich Gregor Gysi und Helmut Karasek, dicht nebeneinander und gegenüber Claus Strunz, und die Sendung fragt im Titel: "Der Kapitalismus als letztes Feindbild der Sozialdemokraten?" Die wichtigste Arbeit haben hier die Dekorateure geleistet: Auf dem Moderatorentisch wird der Champagner gekühlt, Kaviar kredenzt und in einem kubusförmigen Terrarium hocken in Schockstarre eine Handvoll Saltatoria, die grünen, stattlichen Heuschrecken aus dem Wahlkampf-Vokabular Franz Münteferings.

Derlei zoologische Illustrationsversuche sind Sabine Christiansen fremd, und vielleicht muss man den Kaviar nicht offen hinlegen, reicht es doch, dass ihre Gesprächsrunde Mathias Döpfner, Florian Homm und Dirk Niebel zählt, und nicht zuletzt Sigmar Gabriel, einen der letzten Politiker, der so etwas wie Hedonismus ausstrahlt. Wir befinden uns am Sonntagabend 3 Wochen vor der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland. Jenseits aller Versuche, eine Landtagswahl zur "vorgezogenen Bundestagswahl" zu machen oder einen Überlebenskampf der Sozialdemokraten erkennen zu können, muss man diesem Wahlkampf eine besondere Spannung und eine große Bedeutung zuerkennen, in der ein Parteichef nun ein Register gezogen hat, auf das alle Medien gewartet haben: Seine Tirade gegen den Kapitalismus, so platt sie daherkommen mag, könnte so etwas wie die Hoffnung auf neue Unterschiede sein, denn wie soll ein Wahlkampf im Fernsehen stattfinden, wenn die Schnittmengen der großen Parteien den bloßen Personenwahlkampf forcieren. Und die Unterschiede zwischen Peer Steinbrück und Jürgen Rüttgers zu studieren hätte den Charme eines leidenschaftlichen Trennens von Grün- und Weißglas.

Bei Christiansen sind es, perfekt datiert auf den ersten Mai, der unglaubliche Rhetoriker Sigmar Gabriel und der träge DGB-Chef Sommer auf der einen, ein sachlicher Dirk Niebel, der wehleidige BVB-Investor Florian Homm und ein staatsmännischer Mathias Döpfner auf der anderen Seite, die auf der Grundlage der geharnischten Attacken Münteferings versuchen, die Diskussion auf die Christiansen-übliche Ausschuss-Formeln zu bringen: Hier muss das, dann das, dort dieses getan werden, und am Ende der Sendung findet sich fast immer eine Art Konsens, die sich nahezu mathematisch an einer Kompromisslinie orientiert, die ins Niemandsland Mitte führt. Das kann hier nicht funktionieren, denn Müntefering hat der Mitte geradezu ein fausterhobenes „f*** Off“ entgegengeschleudert. Daran kämpfen sich alle ab: An der Heuschrecken-Liste, an den möglichen ausländerfeindlichen Einfärbungen, an der Schärfe aller Äußerungen scheitert eine Konsens-Diskussion. Vielleicht scheitert auch eine wirkliche programmatische Diskussion, wie sie Christiansen wohl anstrebt (wer weiß, was dieses Format noch will). Es ist, so knapp vor der Wahlentscheidung, eine rein rhetorische Diskussion, wie sie den Wahlkampfzeiten angemessen ist, sie findet statt als Rahmenprogramm für zwei TV-Duelle, in unfreiwillig komischer n-tv und N24-Tickerform („Auf der Suche nach den Heuschrecken“), bei Harald Schmidt und Beckmannkerner, eigentlich bekommen alle ein Stück ab vom Kuchen.

Während Christiansen ungerechterweise nur einen guten Rhetoriker (Gabriel) aufbot, bewies Maybrit Illner mit einer hochkarätigeren, weil schlagfertigeren Runde um „Marx und Hartz“ das richtige Gespür. In der reinen Rhetorikdebatte, die nicht ansatzweise auf Politik, aber allein auf einer Kampagne fußt und damit quasi generiert ist für einen echten Schlagabtausch, sind wieder Redner gefordert – wie Dieter Hundt, der das alles „zum Kotzen“ findet, die „Rote Heidi“ Wieczorek-Zeul, die den „Turbokapitalismus“ anprangert, die Herren Seehofer und Wissmann, die richtigerweise Wahltaktik anprangern, und Gregor Gysi, der wie immer alles anprangert.

Im Dialog mit Karasek übrigens wollte er den Münte-Angriff überraschenderweise nicht wirklich unterstützen. Zwei rhetorische Matadoren, Talkshow-Könige durften das ganze Spektakel hier genüsslich auseinandernehmen, Claus Strunz stolz Münteferings Gehalt präsentieren. Auch wenn sich „die Heuschrecken jetzt nicht mehr bewegen“: Es scheint eine kleine Wiedergeburt politischen Entertainments. Dafür ist Müntefering zu danken.