Das Ende einer offenen Beziehung
Sie treffen sich im "Why Not", in der "Erotik Disco B1", im "La Envie" oder im "Tender Love". In Bielefeld, Diemelstadt-Wrexen, in Hohengandern oder Vechelde. Sie heißen Hannah43 Karol-der-Große, Sarah-HH oder PaarSieBi. Sie suchen "gepflegte Männer", "willige Hausfrauen". Sie sind "nett, gepflegt, spontan und versaut." Sie sind das, was man bei einer Partei "die Basis" nennen würde, das Volk. Es sind immer die gleichen. Sie sind frustriert, liebestoll, anonym oder exhibitionistisch. Sie waren Dreh- und Angelpunkt einer Sendung, die es bald nicht mehr gibt.
Sie heißt Ernie Reinhardt und ist nicht erst eine Ikone, seit sie das Sex- und Erotikmagazin Wa(h)re Liebe auf VOX moderiert: In Hamburg auf der Reeperbahn, im von ihr gegründeten Schmidt-Theater wird nach Ernie Reinhardt Lilo Wanders geboren. Der NDR bringt sie zum ersten Mal auf die Fernsehschirme, irgendwann ruft ein "netter, junger" Redakteur von VOX an. Eine Ära beginnt.
Ich habe diese Sendung nie zu Ende gesehen. Wenn am Anfang der Sendung ein Bericht zu den mannigfaltigen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung, gefolgt von einem Live-Strip von Manuela aus Paderborn und einem Set-Bericht von "Dirty Debutants" auf mich einwirkten, um mir mit jeder Sendeminute deutlich zu machen, wie schmerzhaft Liberalität sein kann, kam es spätestens dann zur Reizüberflutung, wenn sie mit schnalzender Zunge ihre "Liebenden" begrüßte. Sie, der rustikale Teil des Sex-TV, das echte Bruchstück des Zerrbilds Fernseherotik, gab mir den Rest. Ich bin kein Liebender.
Wenn jemand so gut träumt, dass er zu echt wird, nennt man ihn einen guten Schauspieler. Lilo Wanders, die ihre Themen meistens nicht mochte und nie einen Swinger-Club von innen gesehen hat, ist so echt, dass es weh tut. Unter den Talaren des St.Pauli-Glitters hängt ein Muff von tausend Jahren sexuellen Freiheitskampfes, dessen Siegesbotschafterinnen Männer sind: Große Männer mit blonden Haaren und weiblichen Namen, Travestiekünstler, mit jedem Augenaufschlag wirft sie dir die Frage zu: Bist du liberal genug für mich? Bist du offen?
Offen sind sie: Hannah43 und die Heerscharen der Liebenden. Sie sind es, auf die Lilo nicht kompromittierend wirkt. "Offen für alles, so lange es nicht weh tut", sagt Lilo, "so lange es der Partner mitträgt". Offen für Analsex, Gruppensex, Öffentlichen Sex, Anonymen Sex, die Liste wird lang und bizarr, das Format ist offen. Und erst in ihrer Gänze, in der ungekürzten Fassung wird sie zum wirklichen Test. Irgendwann ist die Rede von "Deformations-Fetischismus: Die Neigung zur Lustbefriedigung an entstellten oder veränderten Körpern". Bist du noch offen?
Es ist nicht die einzige Frage, die mit der Ära einhergeht. "Ein Mann, bzw. eine Frau ... besser gesagt: Ein Mann und eine Frau, die ihre Fernsehkarriere darauf gründet, dass man das nicht so genau weiß" erklärt sich der evangelische Journalist Hanno Gerwin den Erfolg der Sendung. Das Rätselraten um die Gesichtszüge, die Beine und das Make-Up von Ernie Reinhardt jedenfalls hat die Ära Wa(h)re Liebe begleitet.
Hätte ich eine Sendung zu Ende gesehen, wäre ich vielleicht einen Schritt weiter. Aber es bleibt das Gefühl, etwas nicht verstanden zu haben, eine Ära. Ob mir Hannah43 weiterhelfen kann? Oder Hanno Gerwin? Sollte ich vielleicht einen Besuch im "Tender Love" wagen, um zu verstehen, wie man mit Deformations-Fetischismus umzugehen hat? Ist das Rätsel der großen weiten Welt der Ware Sex, in die einen die Sendung entführen will, schon mit der Identifizierung von Ernie Reinhardt gelöst?
Lilo Wanders wird aus dem Fernsehen verschwinden, und mit ihr Analsex, Gruppensex und Deformations-Fetischismus. Die Welt des dreckigen, aggressiven Paarens ist nicht die Welt des Big Picture oder der Telemesse. Was geht, ist ein radikales Konzept. Was bleibt? "Schulmädchen", "Nathalie - Babystrich IV", Frauenverschleppung bei Richterin Barbara Salesch. Was geht, ist die Frage: Erträgst du mich, mit all meinem Sex? Was bleibt, sind Kader Loth, Dismissed und Jeannette Biedermann.
Und damit, liebe Liebenden, zurück nach St. Pauli.