Vorurteil von Woche: Wohnzimmer sind die besseren Fernsehstudios.
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"Benjamin von Stuckrad-Barre liebt Ordnung und Struktur", sagt Christian Ulmen am Anfang jeder Sendung. "Er hat jeden Tag seines Lebens minutiös geplant. Er hasst Spontaneität und Überraschung. Deshalb haben wir heute eine spontane Überraschung für ihn vorbereitet."
Jenke von Wilmsdorff sagt: "So, Margarethe, jetzt die 100.000-Dollar-Frage: Darf ich bei dir übernachten?" Und die antwortet: "Du kannst von mir aus auch hier einziehen."
Das deutsche Fernsehen kommt zum Hausbesuch. Um prominente Gesprächspartner an Orten zu treffen, wo sie sich wohl fühlen. Der eine Interviewer muss, wie Stuckrad-Barre, ein bisschen hingedrängelt werden. Der andere "Bleibt über Nacht". So heißt die Sendung, mit der Reporter Jenke vom Wilmsdorff nach einem erfolgreichen Piloten bei RTL in Serie gehen darf. Von vornherein war klar, dass der Sleep-Over-Auftakt beim umstrittenen Internet-Unternehmer Kim Dotcom in Neuseeland schwer zu toppen sein würde. Aber als nächstes nach Belgien zu fahren, um dort die Metzgersfrau zu fragen, ob die im Ort wohnende Frau Schreinemakers hier auch immer einkauft ("Chorizo, mittelalter Gouda, Geflügelsalalmi, und es muss immer ganz dünn geschnitten werden") ist fallhöhentechnisch eher suboptimal.
Was er über seine nächste Gesprächspartnerin wisse, fragt von Wilmsdorff seinen Kameramann zu Beginn, der sagt: "Talkmasterin aus den 90ern", woraufhin von Wilmsdorff entgegnet: "Naah, komm – das war schon'n bisschen mehr; das was DIE Talkmasterin aus den 90ern." Tja.
Nach seiner Ankunft lässt er sich das Schreinemakers'sche Anwesen zeigen, die Sache mit der Karriere wird beim Plausch in der Küche abgehakt, gemeinsam joggen die beiden zum Waldstück, in dem die Ex-Moderatorin fast mal gestorben wäre, und schon am Anfang verplappert sich Schreinemakers am Pool bei der Frage, ob ihr Interviewpartner gerne schwimme. Nee, meint von Wilmsdorff, und sie: "Dann gehen wir morgen ins Wasser." (Sendung bei rtlnow.de ansehen.) Damit hätte sich auch die Illusion erledigt, dass von Wilmsdorff seine Gesprächspartner abends spontan mit dem Übernachtungsgesuch konfrontiert. Beim Star-Fotografen Guido Karp in den Hollywood Hills braucht der RTL-Journalist nicht mal mehr zu fragen und kriegt schon vor der Unterhaltung das Gästezimmer gezeigt.
Das macht das behauptete Alleinstellungsmerkmal der Sendung ziemlich zunichte, zumal die nächtliche Schlafunterbrechung keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn schafft, außer vielleicht für Leute, die Margarethe Schreinemakers schon immer mal im Micky-Maus-Pyjama sehen wollten.
Am anderen Morgen gibt's Frühstück, Umarmung, auf Wiedersehen. Interessant sind die Gespräche trotz des fehlenden Tiefgangs. Aber wohl nicht für so viele Zuschauer, wie RTL sie sonntagabends um 19.05 Uhr braucht.
"Stuckrads Homestory" hat sich's von vornherein in der Nische gemütlich gemacht, donnerstagabends im RBB, wo Stuckrad-Barre Promis treffen darf, von denen der Ex-ZDFneo-Ex-Tele5-Polittalker bis kurz vorher nicht weiß, wer sie sind. Das könne auch furchbar schiefgehen, haben die Beteiligten vorher versprochen. Und Wort gehalten: Anfangs ist es furchtbar schiefgegangen. Erster Überraschungsgast war Udo Lindenberg, mit dem Stuckrad-Barre sowieso bekannt ist, sodass sich von vornherein eine ermüdende Gemütlichkeit über die Situation legte. Dazu entpuppte sich die "Homestory" als Besuch im Olympiastadion (wo Lindenberg bald spielt) und im Hotel (wo Lindenberg vor hundert Jahren mal längere Zeit gewohnt hat).
Mit Schauspieler Lars Eidinger ließ sich beim nächsten Mal immerhin schlau übers Fernsehen ("Einfach nicht gucken. Das ist für mich der erste Schritt") und die aktuelle Gesellschaftsordnung lästern ("Kapitalismus ist eine total perfide Form der Diktatur"). Zu Beginn beglich Stuckrad-Barre aber erstmal seine Wettschulden in Form der vereinbarten Adriano-Celentano-CD. Noch ein Kumpel.
Und das hätte vermutlich ewig so weitergehen können: Stuckrad-Barre trifft Leute, die er eh schon kennt und mag, und irgendwer kann dabei zusehen.
Bis Katja Ebstein dran war.
"Katja Ebstein. Ouuuh!", murmelt Stuckrad-Barre, als Ulmen ihm sein Date in der vorvergangenen Woche offenbart. Dann verschränkt er die Hände hinterm Kopf. Überlegt. Und sagt: "Ist bestimmt interessant. Aber ich weiß noch nicht warum." Bei Ebstein auf dem Sofa sitzend entschuldigt er sich: "Ich bin gar nicht so vorbereitet, wie Leben und Werk es gebühren." Und hat von Minute eins sichtlich keinen Bock auf dieses Treffen ("Heute bin ich wahnsinnig müde"). Ebstein plappert wasserfallartig drauflos. Über die Welt, ihre Hits, die Notizsammlung, die sie in Plastiktüten mit sich herumschleppt, und aus der Stuckrad-Barre sie blind Zettel ziehen und erklären lässt.
Und während die Sängerin wild durcheinander erzählt, von Ralfi, dem Schwager ihres Vermieters in Bayern, der ihr nach Ostern die Heizungsregulatoren austauschen soll, und der lästigen Fensterabdichterei, "weil das ist so'ne Energieschleuder, das alte Haus...", während die Sängerin also völlig im eigenen Bewusstseinsstrom versunken ist, fühlt sich Stuckrad-Barres plötzlich herausgefordert und es bricht aus ihm heraus:
"Moment mal, seit 'ner Minute versteh ich kein Wort mehr."
Urplötzlich ist sein Interesse geweckt. "Passt jemand auf Sie auf?", fragt er drauflos. "Sagt ein Manager oder Büro: Du, Katja, 'nach Ostern' ist schon vorbei, jetzt brauchen wir die Umsatzsteuererklärung?" Und: "Das kann ja nicht ihre staatsbürgerliche Existenz sein?", "Kriegen Sie's hin? Sind Sie auf Zack?", "Sie sind ja ein unglaubliches, verzeihen Sie das Wort, Plappermaul!" Aus der Pflichtübung wird ein großartiges Gespräch übers Hippiesein, den Nahostkonflikt, Hypnosynchron-CDs, die Welt. Zwischen zwei Leuten, die sich noch nie zuvor getroffen haben, sich füreinander zu interessieren beginnen und nachher zu Udo Walz gehen, um sich noch die Haare machen zu lassen. (Eine von beiden; Sendung in der Mediathek ansehen.)
Die Ebstein-Folge erfüllte genau das, was "Stuckrads Homestory" verspricht: ein Experiment, bei dem die Nicht-Vorbereitung Voraussetzung ist, um besondere Momente entstehen zu lassen. Daheim bei Jimi Blu Ochsenknecht ist Stuckrad-Barre gerade zu der denkwürdigen Erkenntnis gelangt: "Man muss aufpassen, dass man nicht dieselben Fragen stellt wie Mario Barth." Natürlich wird sonst schon ziemlich viel geredet im deutschen Fernsehen. Aber zu selten in Sendungen, bei denen vorher nicht feststeht, was passieren soll, und die bereit sind, mit ihrem Konzept auch mal zu scheitern.
"Ich find Ihre Energie beeindruckend", sagt Stuckrad-Barre beim Hausbesuch zu Ebstein. Und die meint: "Ich kann Ihnen ja'n bisschen was abgeben". Hat funktioniert.
Das Vorurteil: stimmt.
Offenlegung: Ich hab im vergangenen Jahr für ulment.tv gebloggt, das "Stuckrads Homestory" produziert.