Vorurteil der Woche: "Rising Star" ist nicht mehr zu retten. Und wir Fernsehzuschauer sind zu ungeduldig mit neuen Shows.
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Heimwerker aufgepasst! Wer schon länger überlegt, in seinem Zuhause ein paar neue Akzente zu setzen, der sollte spätestens in drei Wochen die neuen Angebote bei Ebay im Blick behalten. Gut möglich, dass da bald ein Möbel zu verkaufen steht, das die Nachbarn erblassen lassen wird: eine sehr, sehr große – Wand. Der Verkäufer heißt RTL und braucht sie demnächst nicht mehr. Denn die Show, für die sie konstruiert wurde, ist schon jetzt der teuerste Zuschauerflop, den der Sender sich seit langer Zeit geleistet hat. Und gleichzeitig ein Schritt in die richtige Richtung. Weil "Rising Star" die erste Sendung seit Jahren ist, bei der sich der Noch-Marktführer endlich mal wieder traute, etwas falsch zu machen.
Dass es gleich soviel geworden ist, konnte ja keiner ahnen.
Warum hat RTL die besten Sänger nicht gleich in der Auftaktshow auf die Bühne geholt, um die Zuschauer sofort zu überzeugen? Schließlich wird auch in Köln bekannt gewesen sein, dass der Konkurrent "The Voice of Germany" da Maßstäbe gesetzt hat. Warum hat der Sender so ungelenk auf den Aufruhr bei Facebook und Twitter reagiert, wo sich Zuschauer beschwerten, nachdem Kandidaten in der Sendung gesagt hatten, sie bekämen die falschen Songs zugewiesen? Das hat viele Sympathien gekostet. Und warum hat man sich bis zur fünften Liveshow vor zwei Tagen Zeit gelassen, um endlich richtig Tempo in den Ablauf zu bringen?
Zu dieser Zeit hatte sich das Publikum sein Urteil längst gebildet. Und das lautet: Gucken wir nicht, der Nächste bitte. Daran wird auch der Start der "Hot Seats Shows" am Samstagabend nichts ändern.
Dabei ist "Rising Star" eine wunderbare Abendunterhaltung. Weil die Show ihr Publikum einbezieht, ohne es mit 50-Cent-Anrufen zu schröpfen oder Pausen-Gewinnspielen zu nerven. Weil sie Spannungsmomente produziert, in denen Talente noch in der letzten Sekunde die 75-Prozent-Abstimmungshürde überwinden, um weiterzukommen. Weil sie nicht wochenlang im Schnitt zusammengestückelt und mit Zusatzapplaus, Standing Ovations und Wow-Effekten zurechtgeschönt wurde, aber trotzdem groß und aufregend inszeniert ist. Und weil sie höchst unterschiedliche Kandidaten mit sympathischen Familien vorstellt, die in den Miniporträts vor den Auftritten genauso viel Spontanhumor wie Grillleidenschaft beweisen.
"Rising Star" ist das Gegenteil des Auf-Nummer-sicher-Kurses, mit dem die frühere Geschäftsführerin Anke Schäferkordt zwar lange Zeit Rekordmarktanteile einfuhr – aber RTL auch die Stärke nahm, die den Sender mal groß gemacht hat: Mut zum Risiko.
Natürlich war's ein Risiko, für eine solche Produktion einen Moderator zu verpflichten, der vorher noch nicht durch die üblichen Unterhaltungszirkel geschleust worden ist.
Es war ein Risiko, mit Norddeich eine Produktionsfirma zu beauftragen, die nie zuvor eine solche Show produziert hatte und nicht aus Gewohnheit die ewig gleiche UFA-Show-Soße drübergießen konnte. (Wobei: An Castingshow-Profis scheint's im Team ja nicht zu mangeln.)
Und natürlich war es Wahnsinn, eine Show mit so vielen Unbekannten und einer selten getesteten Abstimmmöglichkeit per App zweimal wöchentlich live zu veranstalten.
Aber ist es nicht grade so ein Wahnsinn, der unserem Fernsehen viel zu oft fehlt?
RTL hat's versucht. Und das Ergebnis ist längst nicht so schlecht, wie es nun geredet wird. Moderator Rainer Maria Jilg ist auf höchst erfreuliche Weise nicht Marco Schreyl, freut sich grundsätzlich unschleimig mit den Kandidaten, die weiter sind, und tröstet die, die es nicht geschafft haben, ohne übertriebenes Privatfernsehenpathos, um gleich darauf wieder den nächsten Gag aus seinem schier unerschöpflichen Reservoir an Wandwitzen zu reißen.
Die Produktionsfirma müht sich erkennbar, die Show kontinuierlich weiter zu entwickeln: Die überflüssigen Kandidaten-Smalltalks vor den Auftritten sind gestrichen worden; Anastacia wird jetzt simultanübersetzt; jede Show legt sofort im Studio los, der Vorspann läuft einfach hinten auf der riesigen Wand, nach 3 Minuten singt das erste Talent.
Selbst die mehrheitlich unerträgliche Jury hat langsam in ihre Rolle hineingefunden, klebt nicht mehr bloß stur in den Sesseln und hat Spaß an der Interaktion mit dem Studiopublikum. Anastacia muss deutlich weniger Kauderwelschdeutsch von sich geben als zu Beginn. Gentleman guckt bei Beurteilungen immer seltener wie ein Lehrer beim Jahresendnotenlesen. Offensichtlich hat Joy Denalane gesagt gekriegt, dass sie beim Kandidatenrauswählen nicht zwangsläufig wie die böse Schwiegermutter der Eisprinzessin gucken muss. Und Sasha scheint zwar immer noch nicht so genau zu wissen, was er da zu suchen hat, kriegt jetzt aber auch mal den Mund auf. Selbst wenn mehrheitlich die Standardformulierungen "Potenzial erkannt", "Volumen in der Stimme" und "Du lebst Musik" rauskommen.
Obwohl viele Zuschauer einen großen Bogen darum machen, ist "Rising Star" in vielerlei Hinsicht genau so, wie Live-Fernsehen sein müsste. Ganz sicher nicht perfekt – aber bereit, sich zu entwickeln, zu verbessern, auf Kritik zu reagieren. Mag sein, dass das nicht reicht, um vom Publikum gemocht zu werden. Oder wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass immer alles gleich perfekt sein muss und das Fernsehmachen kein Prozess mehr sein darf.
Beklagen darf RTL das nicht: Der Sender hat wesentlichen Anteil daran gehabt. Und auch die Talente bei "Rising Star" kriegen schließlich eingebläut: Du hast nur eine Chance, als nutze sie.
Diese Gewohnheit wird auf Dauer aber kein besseres Programm produzieren. Sondern bloß noch viele weitere Jahre DSDS, notfalls halt mit Heino in der Jury. Noch ist Bohlen nicht verloren.
Das Vorurteil: stimmt.