Vorurteil der Woche: Das deutsche Fernsehen ist ganz schön moppelig geworden.
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Bedingungslos stellt sich das deutsche Fernsehen seit Jahren in den Dienst der Abspeckunterstützung von Zuschauern, die sich vor der Glotze ein paar Kilo zuviel angefuttert haben, um sie anschließend vor der Reality-Kamera wieder zu entmoppeln. Dabei haben die Sender selbst ganz schön zugelegt, nämlich: Sendeminuten.
Während es früher allenfalls für wenige sehr bekannte Entertainer schicklich war, die in der Programmzeitschrift ausgedruckte Länge zu überschreiten, ist heute jede Unterhaltungsshow von vornherein doppelt so lange wie in den 90ern. Satte drei Stunden brauchte Sat.1 am gestrigen Freitag, um sämtliche Schein-Promis in sein "Big Brother"-Haus zu sperren; vor einer Woche nahm sich ProSieben endlose 194 Minuten Zeit, um mit den Teilnehmern seiner als "Quiz" verkleideten Qual- und Foltershow "Himmel oder Hölle" auf einer zweigeschossigen Bühne auf- und abzufahren (Screenshot), bis alle gründlich blamiert und um ein paar Tausender reicher waren; und das ZDF bestrafte sein Publikum Anfang des Monats mit zweidreivertel Stunden Live-Dauergrillen in "Die große Grillshow".
Warum beschränken sich die Sender nicht einfach aufs Wesentliche – und ersparen uns den Rest? Natürlich weil auch die Marktanteile zulegen, je später so ein Abend und je dürftiger die Konkurrenz wird. Und weil das Geld für die Produktion eh schon ausgegeben ist, da ist auch noch ein Stündchen mehr drin.
Die einfachste Erklärung lautet aber vermutlich: Unser Fernsehen hat verlernt, auf den Punkt zu kommen.
Wenn Vox in der kommenden Woche seine neue (und sehr sehenswerte) Unternehmer-Show "Die Höhle der Löwen" startet, dann dauert die, anders als das Original in Großbritannien, nicht eine Stunde – sondern, wenn man die Werbezeiten rausrechnet, gut 40 Minuten länger. Das ist nicht nur völlig unnötig, sondern dummerweise auch der größte Schwachpunkt. Und als der NDR kürzlich sein – ebenfalls nach britischem Vorbild gebautes – Quiz "Gefragt – Gejagt" (in dem Alexander Bommes deutlich weniger Unheil anrichtet als im unsäglichen "WM Club") fortsetzte, geschah das mit einer Ausgabe "Gefragt – Gejagt XXL". Ohne dass sich jemand in der Redaktion Gedanken gemacht hätte, dass es womöglich unklug ist, eine Show, in der es auch um Schnelligkeit geht, auf die anderthalbfache Sendezeit zu dehnen.
Dabei hätte man das ahnen können: Die vielen Kandidaten haben ja noch nichtmal richtig hinters viel zu kleine Pult gepasst.
Das XXL-Fernsehen ist zu einer echten Plage im Programm geworden. Doch die Macher sind auch noch stolz drauf und hängen ihren Sendungen haufenweise Moppelbelege hintendran. Wenn die "Auslandsjournal"-Reporter des ZDF sich mal nicht mit ein paar Minuten für einen Film begnügen müssen, sondern eine ganze Reportage drehen dürfen, dann heißt die – wie gerade im Programm gelaufen – "außendienst XXL". (Obwohl sie, wie die meisten anderen Reportageformate im Zweiten, bloß die üblichen 45 Minuten lang ist.)
Als der NDR seiner Dokureihe "Schönes Landleben" die doppelte Sendezeit verordnete, hieß sie neulich "Schönes Landleben XXL" (Trailer ansehen). "Extra3" produziert einen Zusammenschnitt seiner Behördenkuriositäten als "Der reale Irrsinn XXL"; "Abenteuer Leben" auf kabel eins fühlt sich immer "XXL" an, auch wenn gerade eine reguläre Folge läuft; und n-tv hat schon richtig Titelschluckauf vor lauter Übergröße ("Renovierung XXL", "Inspektion XXL", "Konstruktion XXL" und "Verschrottung XXL" über ordnungsgemäße Panzer- und Atom-U-Boot-Entsorgung).
Im Ausland wird das deutsche Dehnungsfernsehen mit Staunen aufgenommen. Die Briten würden sich kaum wagen, eine ihrer Shows dermaßen in die Länge zu ziehen, weil sie fürchten müssen, dass die abwechslungsverwöhnten Zuschauer in Scharen fliehen. Deutsche Programmmacher sind schon einen Schritt weiter – und nehmen gar nicht mehr an, Menschen erreichen zu können, die nicht den ganzen Abend ein- und dasselbe sehen wollen. Sie wollen wenigstens die behalten, die sie schon eingefangen haben, und diesen möglichst wenige Umschaltpunkte zumuten, damit sich auch ja keiner traut, zur Konkurrenz zu wechseln, weil eine Sendung tatsächlich vorbei ist.
Ob das der Dramaturgie schadet oder ein (teuer eingekauftes) Konzept womöglich gar nicht hergibt, ist egal. Hätte es das deutsche Fernsehen schon vor 200 Jahren gegeben, wäre Goethe mit seinem "Faust" vermutlich mit dem Auftrag zurück in die Schreibstube geschickt worden: Schmück mal'n bisschen aus, sonst lohnt sich das ja gar nicht auf die Bühne zu bringen.
Das deutsche Fernsehen muss wieder lernen, kürzer zu werden, um besser zu sein! Weil schlechte Shows uns nicht so ärgern, wenn sie nur halb so lang sind wie heute. Und wir gute Shows, wenn sie nur halb so lang sind, unbedingt wiedersehen wollen. Es gibt da bislang nur ein Problem:
Das Vorurteil stimmt.