Vorurteil der Woche: Die ARD geht schlampig mit ihren größten Schätzen um.
* * *
Mit seinem riesigen Schnabel, der vorne nagelartig zuläuft, dem großen Kopf und dem starren Blick ist er kein besonders freundlich aussehender Zeitgenosse. Die Aale und aus ihren Nestern gefallenen Jungvögel würden das bestätigen, wären sie nicht längst verschluckt worden – vom Schuhschnabel, diesem 1,40 Meter großen Vogel aus der Gattung der Ruderfüßer, der aussieht, als sei er direkt aus der Urzeit hersgestakts, mit freundlichen Grüßen von den Dinosauriern.
Geschätzte 5000 bis 8000 Exemplare gibt es noch auf der Welt. Dokumentarfilmer Thomas Behrend hat erstmal einer gereicht. In den nordsambischen Bangweulu-Sümpfen, einem der größten Sumpfgebiete der Erde, hat der Naturfilmer sich in ein Boot gesetzt und ist tagelang durchs Papyrus gefahren, um ein Gebiet abzusuchen, das halb so groß ist wie Deutschland. Und dann tatsächlich besagten Raubvogel vor die Kamera gekriegt. Für ein paar kurze Minuten im Zweiteiler "Mythos Kongo", den das Erste gerade im Programm zeigte.
Zwei Jahre haben Behrend, seine Kollegin Christina Karliczek und ihre Teams in Afrika verbracht, um Natur und Bewohner des zweitlängsten afrikanischen Flusses zu filmen, die menschlichen genau wie die tierischen. Sie haben sich mit Behörden herumgeschlagen, die sie der Spionage verdächtigten; sind stundenlang mit der Ausrüstung durch den Dschungel gelaufen; haben in Forschungscamps gezeltet, um das Verhalten der Bonobos zu studieren; und sie haben den Mikrokopter, eine kleine Kamera am Propellergestell, nach vielen Abstürzen doch noch durch riesige Schwärme mit Flughunden ferngesteuert bekommen.
Ein solcher Aufwand wird für 90 Minuten selbst im öffentlich-rechtlichen Ferensehen nur selten betrieben.
Die ARD möchte die Dokumentarfilme trotzdem nicht mehr dort ausstrahlen, wo sie hingehören: in der Hauptsendezeit. In der Pressemitteilung, die in der zurückliegenden Woche verschickt wurde, hieß es am Ende lapidar: "Der Naturfilm, der bisher am Montag um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen war, wird am Sonntag um 16.30 Uhr seinen neuen Sendplatz im Ersten haben."
Räumen müssen die Dokus ihren Stammplatz für die neue Reihe "Der Montags-Check im Ersten", in der nach dem "Lebensmittel-Check", dem "Haushalts-Check" und dem "Gesundheits-Check" bald auch der "Werbe-Check", der "Reise-Check" und der "Geld-Check" vorgesehen sind. Kein Witz. "Erlebnis Erde" musste zuletzt öfter pausieren, wenn der WDR seine "Markenchecks" ins Programm drückte. Obwohl sich der Erkenntnisgewinn meist in Grenzen hält, haben die Checks in der Regel gute Quoten. Die Tier- und Naturfilme können da nicht mithalten. "Mythos Kongo" sahen zuletzt knapp 3 Millionen Zuschauer. Das ist nicht schlecht, reicht der ARD aber offensichtlich nicht mehr, um die nachfolgenden Sendungen anzuschieben.
Dabei ließ sich der Platz stets auch als Signal verstehen und war ein ideales Werbemittel fürs Erste: Seht her, Filme wie die bei "Erlebnis Erde", die zum Teil Jahre bis zur Fertigstellung benötigen, kann nur das öffentlich-rechtliche Fernsehen! Ironischerweise fiel die internationale Anerkennung dafür stets größer aus als die daheim. Die Dokumentarfilmer, die mit der NDR-Naturfilm-Redaktion unter Leitung von Jörn Röver und der Studio-Hamburg-Produktionstochter Doclights zusammenarbeiten, werden regelmäßig auf Festivals in aller Welt für die wichtigsten Naturfilmpreise nominiert und ausgezeichnet. Weil sie den Zuschauern einzigartige Einblicke in eine Welt erlauben, die selbst im Fernsehen sonst sehr weit weg von uns ist.
Das Erste schiebt sie jetzt noch ein bisschen weiter fort – ins Wochenend-Reservat, wo Zuschauer sehr aktiv hinfinden müssen. Gegenüber DWDL.de erklärt ARD-Chefredakteur Thomas Baumann: "Naturfilme sind ein eindeutig familien-affines Programm für alle Altersgruppen, deshalb halten wir den neuen Sendeplatz am späten Sonntagnachmittag für gut geeignet."
Die ARD ersetzt Programme, bei deren Produktion sie neben der BBC und National Geographic mit zur Weltspitze gehört, durch eine Reihe von Klonsendungen, wie sie inzwischen fast jeder Sender zeigt. Und verschlechtert auch noch ohne Not ihre Position gegenüber dem ZDF, das mit "Terra X" am Sonntagvorabend einen prominenten Platz etabliert hat, auf dem auch Dokus über Naturphänomene laufen.
(Was wohl der Schuhschnabel dazu sagen würde?)
Es ist nicht das erste Mal, dass das Erste einen Dokumentarsendeplatz am Montagabend lyncht: Vor vier Jahren liefen dort um 21 Uhr sehenswerte Reportagen zu aktuellen Themen – bis Programmdirektor Volker Herres eingriff, weil RTL zur gleichen Zeit mit "Bauer sucht Frau" viele Millionen Zuschauer mehr hatte. Der "Süddeutschen" sagte er damals: "Der Sendeplatz am Montag um 21 Uhr ist offenbar mit Dokumentationen nur sehr schwer erfolgreich zu bespielen, weil gerade am Montagabend viele Menschen sich beim Fernsehen vor allem entspannen möchten." Inzwischen entspannen ARD-Zuschauer montagabends bei der Karikatur einer Talkshow, die aussieht wie das, was früher einmal "Hart aber fair" war. Vorher läuft künftig Verbraucherfernsehen, bei dem niemand mehr tagelang durch Sümpfe fahren muss, um Bilder seltener Raubvögel zu drehen. Ab sofort reicht eine Passantenbefragung in der Fußgängerzone.
Der NDR wird bald der einzige ARD-Sender sein, der dem Naturfilm ein regelmäßiges Primetime-Plätzchen reserviert hat. Mittwochs um 20.15 Uhr zeigt "Expeditionen ins Tierreich" immer wieder auch Hintergrundreportagen zur Entstehung der "Erlebnis Erde"-Filme. (Die Doku zum "Abenteuer Kongo" ist aus der Mediathek leider bereits verschwunden.)
(Nachtrag: Auch der WDR hat ein Herz für Tiere, dienstagabends bei "Abenteuer Erde".)
Für die verpflanzte ARD-Reihe verspricht Baumann: "Die Zahl der Erstausstrahlungen von Naturfilmen wird sich mit den neuen Sendeplätzen nicht verringern." In "Ausnahmefällen" werde eine Platzierung "auf Sonderplätzen im Abendprogramm und auf attraktiven Sendeplätzten in Feiertagsprogrammen weiter möglich sein". Das trifft es schon ganz gut: Reportagen über den Planeten, auf dem wir leben und Fernsehen produzieren, sind im Ersten zu vernünftigen Sendezeiten künftig – Ausnahmen.
Das Vorurteil: stimmt.