Vorurteil der Woche: Der attraktive Sendeplatz ist nicht der beste Freund der TV-Dokumentation.
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Wer sie sehen will, muss früh aufstehen, Sender einschalten, die weit hinten auf der Fernbedienung leben, und leise sein, um sie nicht sofort wieder zu verscheuchen. Dies ist eine kleine Expedition. Dorthin, wo die schönen Dokus wohnen.
Im bayerischen Vorabendprogramm
"Hoch die Haxen, kumm, kumm", ermuntert Jörg Bartusch seine weißhaarige Patientin und hebt sie mit Schwung die Liege, um sie zu untersuchen. Bartusch ist Hausarzt im bayerischen Dinkelscherben bei Augsburg. Er ist das seit 35 Jahren, vermutlich ähnlich lange wie es die Schrankwand in seiner Praxis schon gibt. Vor allem aber ist er jetzt 70 Jahre alt und hätte vor fünf Jahren in Rente gehen wollen. Doch da war keiner, der seinen Job übernehmen wollte. "Zu weit am Land, zu lange Arbeitszeit, kaum Freizeit", lauteten die Argumente.
Jetzt gibt es vielleicht doch jemanden: Dr. Emad Hassan, ein junger Mediziner aus Ägypten, der in Kairo und Katar gearbeitet hat, und der bereit ist, Heimat und Familie zurückzulassen, um endlich seinen Job gut machen zu können. Hassan sagt: "Das Gesundheitssystem in Ägypten ist korrupt. Es herrscht Chaos. Die Organisation ist schlecht. Ich habe mich ständig gefragt, ob ich hier weiterarbeiten will – und meine Zweifel sind immer größer geworden."
Stefan Brainbauer und Florian Meyer-Hawranek haben den 33-Jährigen auf seinem Weg nach Deutschland begleitet, und sie erzählen nicht nur, wie der Arzt aus Ägypten und die Patienten aus Bayern die für beide Seiten große Umstellung bewältigen, sondern auch, was vielen kleinen Orten in Deutschland bald blühen wird, wenn es dort keine Ärzte mehr gibt. "Der Landarzt-Import", heißt ihre Mini-Dokureihe, die seit der vergangenen Woche im Magazin "Gesundheit!" lebt, das der BR dienstagvorabends zeigt (ab 19 Uhr). Und sie ist so sehenswert, weil sie nicht nur mit klassisch-dokumentarischen Mitteln eine ungewöhnliche Geschichte erzählt, sondern sich auch unverkennbar für ihre Protagonisten interessiert.
Samstagmittags auf Neo
Wie wir zur Welt stehen, ist eine Frage der Perspektive, und ZDFneo hat mal ausprobiert, wie das ist, wenn man die wechselt. "Deutschland von unten" heißt die Fortsetzung der erfolgreichen Reihe "Deutschland von oben" (Samstag, 16.30 Uhr), und deutlich mehr Mühe als mit der Titelfindung hatten Petra Höfer und Freddie Röckenhaus mit den vielen Drehorten, von denen aus sie ihre Reihe erzählen.
Höhepunkt der ersten Folge ist zweifellos die Riesending-Höhle im Untersberg, der zu den Berchtesgardener Alpen gehört, und in dem das Kamerateam einer Gruppe von Höhlenforschern gefolgt ist, die sich auf eine viertägige Expedition ins Innere des steinernen Riesen begeben hat. Dabei sind Bilder von Orten entstanden, die so unwirklich aussehen, dass man sich schon beim Zusehen wie auf einem fremden Planeten vorkommt, und die einen gleichzeitig frösteln lassen, weil man die Kälte der unterirdischen Seen und der tiefen Grotten zu spüren scheint.
Weil die Definition von "unten" je nach Erdenbewohner unterschiedlich ausfällt, bietet die Doku ihrem Publikum zum Auftakt außerdem einen Blick ins Bernburger Salzbergwerk, wo regelmäßig 5000 Tonnen Salz aus dem Massiv gesprengt werden, damit uns später das Abendessen schmeckt. Die Macher sind in die Höhlensysteme der Schwäbischen Alp eingetaucht, sie erklären, warum Stuttgart ohne den Bodensee auf dem Trockenen säße, und wie unsere Vorfahren unterirdische "Beinhäuser" anlegten, um dort ihre Toten die ewige Ruhe zu schenken.
Beeindruckend sind auch die vielen Animationen, mit deren Hilfe die Doku nicht nur das Höhlengeflecht im Unterberg sichtbar macht, sondern auch die Wühlleidenschaft der Alpen-Murmeltiere und die Wurzeln im Waldboden, wo Pilze sich mit Bäumen so vernetzen "wie das Internet unsere Computer". Am Sonntag traut sich der Film praktischerweise ins Hauptprogramm (ZDF, 19.30 Uhr).
Bei ZDFinfo, wenn alle schlafen
Wenn Politiker vor "Armutszuwanderung" warnen und markige Sätze wie "Wer betrügt, der fliegt" von sich geben, dann ist das - Wahlkampf. Reporter Wolf-Christian Ulrich war davon so genervt, dass er sich was vorgenommen hat: "Reden wir mit denjenigen, auf deren Rücken gerne Stimmung gemacht wird." Er hat sich zum Bettenbeziehen mit Rosalia aus Ungarn getroffen, die in Deutschland als Zimmermädchen arbeitet und ihrer Tochter erklären muss, dass sie nicht zurück nachhause können, weil dort das Geld für sie nicht reicht. Und mit Gheorge aus Rumänien, der von dem bisschen Geld, das hier mit Gelegenheitsjobs verdient, die ganze Familie ernähren muss.
"Ulrich protestiert für die Jobnomaden" heißt die neuste Folge der ZDFinfo-Reihe, der bis heut kein fester Sendeplatz vergönnt ist, und die Sie an diesem Samstagmorgen bei ihrer Premiere um 5.15 Uhr eventuell verpasst haben. (Bisherige Folgen im Netz ansehen.)
Der Film von Thomas Vogel ist eine Reise in ein Europa geworden, das viele von uns gar nicht kennen. Nach Sofia, wo die Menschen im Goethe-Institut Deutsch lernen, weil sie lieber weggehen wollen als in der Barackensiedlung zu landen, wenn es keine Arbeit für sie gibt. Nach Berlin, wo die "Songs of Gastarbeiter" von früher neu remixt plötzlich Clubhits sind und sich Reporter Ulrich in Kreuzberg kopfhöreraufhabend beim Ampeltanz von Damen mit Kopftuch anstarren lässt. Überall dorthin, wo Menschen ihr Zuhause verlassen haben, um anderswo neu anzufangen, und dort nicht nur gegen Heimweh kämpfen müssen, sondern auch gegen Ablehnung.
Dass daraus keine düster, trübselige Zustandsreportage geworden ist, sondern ein aufrüttelnder Bericht darüber, wie es jenseits all der Klischees aus Politikerreden aussieht, liegt an den Protagonisten, die Ulrich getroffen hat: am Büdchen in einem Hamburger Vorort, am Ufer des Mains in der Bankenmetropole Frankfurt, in den Wohnvierteln der rumänischen Hauptstadt und zum Döner-Frühstück im Leipziger Istanbul-Kebap. Weil alle, so unterschiedlich sie sind, erzählen, was ihnen Europa ganz konkret ermöglicht hat – allen Problemen zum Trotz.
Wenn Sie sich vorgenommen haben, vor der Wahl wenigstens eine Europa-Reportage im Fernsehen anzuschauen: Das ist sie.
Mit weiteren Offline-Sichtungen wäre am Montag um 11.15 Uhr sowie nächstes Wochenende zu rechen: Samstag um 17.15 Uhr und Sonntag um 6.30 Uhr. Die Wahllokale öffnen dann anderthalb Stunden später.
Und das Vorurteil: stimmt.