Christian Drosten ist seit mehr als zwei Monaten allgegenwärtig, egal ob in Talkshows oder in seinem NDR-Podcast: Der Virologe erklärt Millionen Menschen die Welt in Zeiten von Corona. Ende April veröffentlichten Drosten und sein Team eine Studie, in der es um die Frage ging, wie ansteckend Kinder sind. Nun berichtet die "Bild", dass diese Studie "grob falsch" gewesen sei und nur deshalb Schulen und Kitas dicht bleiben würden. 

Zur Untermauerung führt die "Bild" in ihrem Bericht gleich mehrere Wissenschaftler an. So sollen sich sowohl Leonhard Held, als auch Dominik Liebl, Jörg Stoye und Christoph Rothe gegen die Drosten-Studie gestellt haben und teils harsche Kritik geäußert haben. Das Problem: Alle vier genannten Wissenschaftler haben sich nach der Veröffentlichung des "Bild"-Textes davon und von der Zeitung distanziert. Rothe etwa schreibt auf Twitter, niemand von der "Bild" habe mit ihm gesprochen. Stoye erklärte, er wolle nicht Teil einer "Anti-Drosten-Kampagne" sein. 

Stoye hat auch dem "Spiegel" ein langes Interview gegeben und darin über seine Kritik und die Berichterstattung der "Bild" gesprochen. "Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker", sagt er darin. Als er von dem Bericht erfahren habe, habe er Drosten eine Mail geschrieben und ihm gesagt, wie unangenehm ihm die Situation sei. Laut Stoye stammen die von "Bild" zitierten Aussagen aus einem Aufsatz, den er auf englisch verfasst habe. "Bild" habe diesen "recht freihändig" übersetzt. Stoye: "So, wie ‘Bild’ meine Zitate verwendet, stehe ich auf keinen Fall dazu."


Bei der "Bild" hat man also ganz offensichtlich aus mehreren öffentlich zugänglichen, wissenschaftlichen Aufsätzen und Diskussionen eine Art Abrechnung mit Drosten gemacht. Dabei verwendet man auch Zitate ohne Zusammenhang. Zudem lässt man unter den Tisch fallen, dass Kritik in der Wissenschaft normal ist und dadurch nicht gleich ganze Studien "grob falsch" sind. Einige der Wissenschaftler betonen auch, es gehe um die Art der "Bild"-Berichterstattung. Sie halten ihre Kritik an der Studie aufrecht, distanzieren sich aber von der Darstellung im Boulevardblatt. 

"Hätte ich gewusst, dass ‘Bild’ diesen Satz liest, hätte ich ihn bestimmt nicht geschrieben."
Jörg Stoye im "Spiegel" über seine Kritik an der Drosten-Studie

Einige "Bild"-Journalisten berufen sich auf Twitter nun darauf, dass die Kritik an der Studie bestehen bleibe, auch wenn die Wissenschaftler sich nun von "Bild" distanzieren. Jörg Stoye sagt im "Spiegel"-Interview, er habe seinen Text auf der Plattform Arxiv.org veröffentlicht - normalerweise würde dort kein Nichtwissenschaftler mitlesen. "Hätte ich gewusst, dass ‘Bild’ diesen Satz liest, hätte ich ihn bestimmt nicht geschrieben". Gemein ist ein Satz, den man so auslegen könnte, als hätte Drosten die Ergebnisse seiner Studie schon vorher festgelegt und danach nur noch zu untermauern versucht. "Bild"-Chef Julian Reichelt nimmt das Zitat zum Anlass, um "Bild" zur Speerspitze der freien Presse zu machen. "Es ist der beste Beleg dafür, dass manche sehr notwendige und höchst berechtigte kritische Fragen derzeit nur von BILD gestellt werden", schreibt er auf Twitter.

Drosten veröffentlichte Kontaktdaten des Journalisten

Die Boulevardzeitung führt in ihrem Text aber auch interne Kritik aus Drostens Forscherteam an. Dort seien die Fehler bereits eingestanden worden. Dem entgegnet der Virologe auf Twitter: Ein "Bild"-Reporter habe einen englischsprachigen Mathematiker am Telefon "in die Irre geführt". Doch auch Drosten selbst steht in der Kritik. Er machte die Anfrage des "Bild"-Journalisten auf Twitter öffentlich - zunächst mit den Kontaktdaten des Reporters. Als das zu Kritik führte, löschte Drosten den Tweet und legte ihn neu an - dieses Mal ohne Kontaktdaten. Aus der veröffentlichten Anfrage geht außerdem hervor, dass der "Bild"-Reporter Drosten zur Beantwortung der Frage lediglich eine Stunde Zeit ließ. Drosten witterte "tendenziöse Berichterstattung" und antwortete via Twitter: "Ich habe Besseres zu tun". 

Inzwischen ist eine Diskussion darüber entbrannt, welche Seite in dieser Sache im Recht ist. Medienrechts-Anwalt Ralf Höcker etwa bezeichnete den Bericht in der aktuellen Form als "rechtswidrig". Und auch der langjährige "Bild"- bzw. "BamS"-Mann Georg Streiter, er leitete über Jahre hinweg das Politik-Ressort, übt Kritik an seinem früheren Arbeitgeber. Es tue ihm weh zu sehen, wie "der aktuelle Chefredakteur mit einer Handvoll gläubiger Jünger seit März 2018 die gute Arbeit der Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen ruiniert", so Streiter. Die Schlagzeile ("Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht – Kollegen von Star-Virologe Prof. Drosten räumen Fehler ein") sei durch nichts belegt, sagt Streiter. Tatsächlich wird die Überschrift im Text nur noch als Frage eingestreut. 

Streiter wirft dem verantwortlichen "Bild"-Reporter vor, die Wissenschaft nicht verstanden zu haben. "Da geht es nämlich kooperativ zu: Wissenschaftler forschen [...]. Sie veröffentlichen und stellen ihre (Teil-) Ergebnisse weltweit zur Diskussion. Dann geht es hin und her – und erst nach einiger Zeit (das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern) gibt es eine mehr oder weniger abschließende wissenschaftliche Erkenntnis." Der ehemalige "Bild"-Mann kritisiert aber auch Chefredakteur Julian Reichelt scharf. Das sei wie bei Hundebesitzern, so Streiter. "Das Problem befindet sich in der Regel am oberen Ende der Leine." 

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