Im Meer horizontal erzählter Serien bereiten Cliffhanger der nächsten Episode normalerweise nur das Terrain, spitzen das Gezeigte also zu, degradieren es aber selten zum reinen Warmup fürs Folgenfinale. Wobei: was war, was ist an „Der Pass“ schon normal? Wenn die 2. Staffel der Sky-Serie heute Richtung Cliffhanger steuert, erinnern die ersten 46 Minuten, 23 Sekunden folglich ans Pflichtprogramm, das die abschließende Kür allenfalls vorbereitet. Am Ende vom Auftakt der achtteiligen Fortsetzung nämlich hat er seinen Auftritt. Endlich.

Nicholas Ofczarek.

Sein physisch wie psychisch ruinierter Gedeon Winter machte den ohnehin grandiosen Thriller vor drei Jahren zum TV-Ereignis jener präpandemischen Tage. Mit beiden – der Serie und ihrer Hauptfigur – hatte die Produktionsfirma Wiedemann & Berg somit eine Fiktion erschaffen, die den deutschen Hang zur kriminalistischen Fallanalyse mit Wiener Schmäh von einschüchternder Grandezza garnierte und selbst die unvergleichliche Julia Jentsch als Ofczareks Partnerin in den Schatten stellte.

Nun ist Ellie Stocker zurück, wenngleich vorerst ohne Winter. Nachdem sie vor drei Jahren unter Einsatz ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit gemeinsam den „Krampus-Killer“ zur Strecke gebracht hatten, liegt der Österreicher mit Schussverletzungen im Koma, weshalb es die Deutsche ohne ihn mit dem nächsten Ritualmörder aufnehmen muss. Er heißt Alexander Gössen, wird vom unscheinbaren Dominic Marcus Singer gespielt und dem Publikum wie anno 2019 früh als Täter präsentiert.

Der Sohn einer reichen Salzburger Bau-Dynastie mit Schloss voller Jagdtrophäen und ironiefreiem Schnauzer kann zwar offenbar Rotwild, aber keiner Menschenseele ein Leid antun. Zwischen Hoch- und Herrensitz aber offenbart er in jeder Regung, dass etwas Dunkles in ihm lauert. Nach eigenem Drehbuch verbergen die Regisseure Cyrill Boss und Philipp Stennert folglich wie in der ersten Staffel zu keiner Zeit den menschlichen Abgrund hinterm arglosen Gesicht des passionierten Pianisten und Jägers.

Mit etwas Fantasie kann man sich sogar sein erstes Opfer ausmalen: Eine Anhalterin, die er Anfang der ersten Folge mitnimmt, Ende der zweiten tötet und zu Beginn der dritten mithilfe seines älteren Bruders (Christoph Luser) professionell beseitigt, während die Polizei im Wechselschnitt Täterprofile erstellt. Wie im vielfach preisgekrönten Reihenauftakt beginnt also auch hier die grenzübergreifende Jagd nach einem Bekannten, dem die Verfolger im Labyrinth falscher Fährten nur langsam näherkommen.

Wie damals steht aber gar nicht so sehr die Lösung einer Serie barbarischer Tötungen junger Frauen im Mittelpunkt der Story; es ist der Mensch an sich, also wir – eine Spezies, deren Triebe und Dämonen trotz zivilisatorischer Errungenschaften leicht die Oberhand gewinnen, falls ihnen Vernunft und Alltag unterliegen. In der zweiten Staffel schickt Kameramann Philip Peschlow sein Publikum also aufs Neue ins Unterbewusste verschütteter Instinkte, was die psychotische Musik von Hans Zimmer noch verstärkt.

Wenn Ellies Trauma vom vorigen Fall gefährliche Übersprungshandlungen im neuen erzeugt, wenn sie sich deshalb durch die junge Kollegin Yela (Franziska von Harsdorf) ersetzen lässt, wenn sie ihrerseits Erschütterungen vom lebenslang inhaftierten Vater plagen, wenn überhaupt alle Beteiligten vom Förster mit Tochter im Wachkoma über den Täter mit Mutter ohne Empathie bis zum Bruder mit mehr Sorge ums Unternehmen als die Opfer des Bruders tonnenweise biografischen Ballast mit sich rumschleppen, zerkratzt Zimmers virtuoser Sound die Landschaft sogar noch mehr als das ständige Zwielicht nebeliger Berge. In diesem Antiheimatfilm, das zieht sich von der 1. bis zur 400. Minute, scheint nie die Sonne. Stattdessen fällt unablässig feiner Schnee auf graugrüne Landschaften, ohne je Decken zu bilden.

Beste deutschsprachige Serienfiktion

Alles immer ausdruckstark, alles maximal bedeutsam, alles natürlich gern mal ein wenig pathetisch – schließlich stammt „Der Pass“ aus dem Land der „Dark“-Macher, die mitunter ihrem Drang zur Deckungsgleichheit von Bild- und Tonsprache mit Stimmung und Atmosphäre folgen, Provinzpolizisten beim Ermitteln unter Tatverdächtigen aus der Oberschicht als schicke Hipster dekorieren und gute Effekte sogar noch ein bisschen mehr lieben als gute Dialoge. Doch das sind bloß kleine Schönheitsflecken auf einer Inszenierung, die zum Besten zählt, was deutschsprachige Serienfiktion hervorbringen kann.

Das wiederum liegt abseits der spürbaren Zerrüttung von Jentschs Charakter vor allem an Ofczarek. Auch im OP-Hemd serviert seine Figur noch ein funkensprühendes Menü aus Verwahrlosung und Glamour, Rotlicht und Blitzlicht, Kraft und Schwäche, das jedes Melodrama mit artifiziellem Naturalismus überspielt. Dank dieser Intensität kann es „Der Pass“ auch 2022 mit Serien wie „Die Brücke“ und „True Detective“ oder Marvin Krens psychedelischem Porträt von Siegmund „Freud“ aufnehmen.

Sie ist aber auch aus einem sehr aktuellen Grund sehenswert: Weitere acht Teile lang räumt Sky höchst originell mit dem Mythos ordnungsliebender, gemütlicher, zwar verschrobener und konservativer, aber doch sehr gastlicher Bergmenschen auf. Ein Klischee, das die Impfverweigerung höhergelegener Landstriche grad unangenehm real schreddert. Da zeigen uns Serien wie diese mit packender Tiefgründigkeit: Das Böse lauert überall. Sogar hinterm Biedermeier puzzletauglicher Fachwerkhäuser.

Sky zeigt die zweite Staffel von "Der Pass" ab dem 21.1. freitags um 20:15 Uhr in Doppelfolgen bei Sky One. Bei Sky Ticket und Sky Q gibt's alle Folgen auf Abruf.