Seit diesem Jahr bündelt die ProSiebenSat.1 Media SE all ihre Aktivitäten rund um das Entertainment-Geschäft in der neuen Seven.One Entertainment Group. Neben den Sendern, die bislang unter der ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH zusammengefasst waren, gehören auch die bislang separat agierende Vermarktung, Produktion und Distribution dazu. Seit dem 1. Oktober agiert die Seven.One Entertainment Group unter neuer Flagge und Geschäftsführung von Wolfgang Link, dessen Führungsteam durch Chief Content Officer Henrik Pabst, Chief Distribution Officer Nicole Agudo Berbel und Chief Sales Officer Thomas Wagner komplettiert wird. 

Seven.One Entertainment will vom „reinen TV-Anbieter“ zum plattformübergreifenden Entertainment-Anbieter werden. Aber mit Verlaub: Mir wäre neu, dass sich ProSiebenSat.1 in den letzten Jahren noch als „reiner TV-Anbieter“ verstanden hat. Was ist jetzt neu an der Strategie?

Henrik Pabst: Neu ist, dass wir alle Entertainment-Marken und -Firmen unter einem Dach gebündelt haben. Inhalte, Reichweite und Vermarktung – für diese Bereiche stehen wir drei als Geschäftsführer. Wir brechen Silos im Denken auf bzw. haben sie ebenso wie Parallel-Strukturen abgebaut.

Thomas Wagner: Es geht darum, Barrieren in den Köpfen aufzubrechen. Es ändert viel, wenn wir alle nicht mehr im „die und wir“ denken. In der fragmentierten Mediennutzung heutzutage ist es wichtiger denn je, dass Inhalte zielgenau vermarktet und verbreitet werden.

Nicole Agudo Berbel: Den Weg haben wir – da haben Sie Recht – schon länger eingeschlagen, aber können ihn jetzt operativ noch besser und vernetzter umsetzen. 

Das klingt furchtbar harmonisch. Bedeutet aber konkret und zugespitzt formuliert: Die Verteidiger der linearen Fernsehdenke müssen runter von ihrem hohen Ross. 

Henrik Pabst: Als ich hier vor einem Jahr dazugestoßen bin, habe ich bereits eine große Offenheit für neue Windowing-Strategien im Zusammenspiel mit Joyn erlebt. Diese Bedenken vor einer Kannibalisierung, die früher die Hüter des linearen Programms umtrieb, sind vorbei. Ich denke, das ist auch getrieben durch das private Nutzungsverhalten vieler Kolleginnen und Kollegen, die ihren Tag auch nicht mehr unbedingt nach 20.15 Uhr ausrichten. Also sollten wir auch dem Teil des Publikums, dem es genauso geht, ein Angebot auf Abruf machen.

Erzählt wurde das bei ProSiebenSat.1 halt schon seit dem Start von Maxdome vor 14 Jahren. Aber immer wieder merkte man, dass das Lineare Vorrang hat… 

Nicole Agudo Berbel: Wir kommen aus dem linearen TV, das ist unsere DNA, und für Thomas, sein Vermarktungsteam und viele andere Bereiche bleibt das auch sehr wichtig. Aber wir sind in alle Richtungen offener als jemals zuvor. Wir waren mit Maxdome Pioniere des SVoD in Deutschland, haben in den Jahren danach eine Reise über 7TV bis zu Joyn gemacht, was eine ganz andere strategische Bedeutung hat als die ersten Gehversuche damals. Wir werten immer häufiger auch deutlich vor TV-Ausstrahlung aus, sowohl werbefinanziert als auch hinter der Bezahlschranke. Wir sind genauso flexibel geworden wie unsere Zielgruppen.

Flexibel klingt gut, aber bedeutet auch: Man blickt als Nutzer oft nicht mehr durch, was wann warum wie ausgewertet wird. Bleibt das Windowing so experimentell oder zeichnet sich ein neuer Standard ab?

Henrik Pabst: Beim Thema Windowing befinden wir uns auf einer Reise, auf der wir – wie auch andere Marktteilnehmer – jeden Tag dazulernen. Manchmal ist es auch immer noch eine Frage der Rechte, aber oft geht es darum, zu verstehen, wie On-Demand und lineare Ausstrahlung am besten zusammenpassen. Das kann auch je nach Genre variieren. Mit Klaus Holtmann haben wir für das Windowing einen ausgewiesenen Experten zu uns geholt, der hier wichtige Impulse setzen kann.

So, Herr Wagner, wenn jetzt aber alle nur noch das tolle Joyn nutzen würden, hätten Sie keine gemessene Reichweite mehr. Die AGF erfasst die Nutzung dort ja noch nicht…

Thomas Wagner: So ist es aber ja nicht (lacht). Eine umfassende Bewegtbildwährung ist natürlich ein sehr zentrales und wichtiges Thema für uns. Wir arbeiten diesbezüglich an einer Lösung, mit der wir ab 2021 Videoadvertising auf dem gleichen Qualitätsniveau wie TV ausspielen, messen und ausweisen. Das heißt im Wesentlichen: Das Werbemittel muss vollständig und von der gewünschten Zielgruppe gesehen werden. Damit starten wir Anfang des kommenden Jahres. Und weil Sie Joyn erwähnen: Joyn entwickelt sich sehr gut mit 3,6 Millionen Unique Usern und wir haben hier, z.B. mit Hornbach, auch schon tolle Cases realisiert.

Dass immer mehr Nutzung nicht in den AGF-Zahlen ausgewiesen wird, die von Kunden und Branche betrachtet werden, um über Erfolg oder Misserfolg zu entscheiden, wird damit aber nicht gelöst...

Thomas Wagner: Aber bei so vielen Marktpartnern erweist es sich als extrem schwierig, bei der Zielsetzung einer Bewegtbildwährung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Umfassende Digitalkampagnen können wir aber natürlich längst umsetzen, ein aktuelles Beispiel ist unsere Erfolgsshow „The Masked Singer“. Hier haben wir umfassende 360-Grad-Kampagnen vom TV-Format über unsere Digital-Angebot wie die ProSieben-App bis hin zum Merchandising am Point of Sale umgesetzt. Und ein Online-Prospekt-Angebot wie marktguru.de lässt sich gut in viele Kunden-Kampagnen integrieren und mit externen Mandanten können wir einzelne Zielgruppen noch besser anbieten.

"Unsere Content-Strategie: Mehr lokal, mehr live, mehr Relevanz"

Henrik Pabst, Chief Content Officer

Stichwort „The Masked Singer“, Herr Wagner: In der Vermarktung sind Sie vermutlich dankbar dafür, dass die Sender der Seven.One Entertainment weniger auf Hollywood und mehr auf Eigenproduktionen setzen, weil sich die intensiver vermarkten lassen?

Thomas Wagner: Absolut. Lizenzprodukte haben oft Restriktionen und bei unseren Eigenproduktionen können wir frühzeitiger und umfassender in Partnerschaft mit den Kreativen schauen, wie wir Programme optimal vermarkten. Der Schritt zu mehr lokalen Produktionen ist für uns in der Vermarktung ein sehr wertvoller. Bei „The Voice of Germany“ entwickeln wir seit Jahren immer neue Ideen, freuen uns über einen langjährigen Partner wie Seat. Mit der Formel E wollen wir ein Thema besetzen und ausbauen, wie wir es schon mit der NFL geschafft haben. Für die Vermarktung bietet Formel E eine große Fläche für das Thema Nachhaltigkeit. Hier zeigen sich dann wieder die Vorteile der Seven.One Entertainment Group. 

Henrik Pabst: Die zeigen sich auch in unserer Content-Strategie: Mehr lokal, mehr live, mehr Relevanz. Kehren wir uns ganz ab vom Lizenzmarkt? Nein. Aber der Lizenzmarkt bietet immer weniger Passendes – und wie Thomas schon sagt: Mit Eigenproduktionen entwickeln wir Alleinstellungsmerkmale.

Nicole Agudo Berbel: Anknüpfend an Thomas möchte ich noch ergänzen, dass zum Beispiel auch Addressable TV für uns strategisch ein wichtiges Thema ist, um neue Reichweiten-Potentiale erschließen zu können. Das treiben wir ja bereits gemeinsam mit der Mediengruppe RTL in unserem Joint Venture D-Force voran. 

Wie viel ist so ein Joint Venture wert, wenn die Mediengruppe RTL Deutschland dann vorprescht und einen Deal mit der Deutschen Telekom macht?

Nicole Agudo Berbel: Das ergänzt sich gut. Wir brauchen maximale Akzeptanz für das Thema. Und natürlich führen wir intensive Gespräche mit allen Marktpartnern, u.a. auch mit der Telekom.

Ist die Deutsche Telekom jetzt eigentlich ein Frenemy? Über die Rolle der Neutralität von Gatekeepern wurde ja in den vergangenen Jahren zur Genüge diskutiert….

Nicole Agudo Berbel: Es ist nicht so, als hätte ich diese Frage nicht erwartet. (lacht) Wir pflegen selbst langjährige und vertrauensvolle Partnerschaften mit vielen Plattformen im Markt, wie zum Beispiel mit der Telekom, aber natürlich auch mit Vodafone und anderen. Zudem bauen wir einerseits unsere Angebote auf unseren eigenen Plattformen aus, andererseits gehen wir auch neue Partnerschaften im Markt ein: Wir sind ab sofort auf Amazon Prime Channels unter der neuen Dachmarke Seven Entertainment zu finden.  

Was steckt hinter Seven Entertainment? 

Nicole Agudo Berbel: Unter Seven Entertainment fassen wir die Inhalte unserer Pay-TV-Marken ProSieben Fun, Sat.1 Emotions und Kabel Eins Classics zusammen. Damit erschließen wir neue Zielgruppen für unsere starken Inhalte, die ab sofort als Angebot bei Amazon Prime Channels buchbar sind.  

Eine interessante Neuerung, weil ich mich eher gefragt hatte: Braucht es die Pay-TV-Marken noch, wenn man Joyn im Markt etablieren will, auch vor dem Hintergrund, dass einige Sendermarken einst gestartet wurden, weil man aus Output-Deals mit Hollywood noch so viel ungenutzte Programmstunden vorliegen hatte. 

Nicole Agudo Berbel: Der Mehrwert unserer Pay-TV-Sender ist für uns mit Joyn sogar gestiegen, weil es viel effizienter für uns ist, eingekaufte Programme neben der linearen Ausstrahlung auf unseren Pay-TV-Sendern auch nicht-linear, zum Beispiel als ganze Staffeln on demand bei Joyn und anderen Plattformen anzubieten. 

Henrik Pabst: Mit unseren Pay-TV-Sendern haben wir eigenständige Marken etabliert, die ein wichtiger Bestandteil unseres Senderportfolios sind. Unsere Abkehr von Output-Deals ändert nichts an ihrer Bedeutung für uns – im Gegenteil. Heute kaufen wir viel gezielter ein als in der Vergangenheit und davon profitieren alle unsere TV-Sender. 

Seven.One Team © Seven.One/F. Bachmeier Henrik Pabst, Nicole Agudo Berbel und Thomas Wagner

Herr Wagner, eine Nachfrage nochmal zu „The Masked Singer“. Da hat man in der Vermarktung ja schon ausgereizt, was möglich ist. Interessant war der wiederholte Einsatz von Splitscreens in einzelnen Werbeblöcken. Ein interessantes Tool, das man eigentlich selten sieht, dafür dass es die Werbeinsel-Reichweite erhöht…

Thomas Wagner: Besondere Werbemittel bleiben nur dann besonders, wenn wir sie gezielt einsetzen. Wir müssen bei Sonderwerbeformen und Premium-Platzierungen auch aufpassen, dass man die Akzeptanz behält. Das gilt auch für Switch-Ins, also Werbeeinblendungen im laufenden Programm. Wenn man da keine Limits setzt, dann dreht das Publikum zu Recht am Rad.

Herr Pabst, wäre es angesichts einiger neuer TV-Ideen, die für und mit Seven.One Entertainment hier lokal entwickelt wurden, falsch zu sagen, dass der Export von Programmen strategisch wichtiger wird als der Import? 

Henrik Pabst: (überlegt) Das ist eine wirklich gute Frage. Beim Blick auf die Zahlen sind wir davon noch weit entfernt. Aber ist es wahr, dass wir in Deutschland viel mehr entwickeln und inzwischen mehr als früher auch TV-Ideen exportieren? Ja. Nehmen wir zum Beispiel allein all die Ideen, die mit Joko & Klaas entstanden sind, inklusive der grandiosen Idee, sich als Gewinn einer Show 15 Minuten Sendezeit schenken zu lassen. Aber trotzdem bleiben 24 Stunden auf all unseren Sendern und Plattformen zu füllen – und deshalb werden wir auch weiterhin viel importieren.

Redseven Entertainment soll stärker für die eigene Sendergruppe produzieren. Wenn mehr Programm intern in der Seven.One Entertainment Group entsteht, geht dann weniger Budget in den freien Produzenten-Markt?

Henrik Pabst: Nein. Wir investieren weiter und sogar mehr denn je in lokalen Content. Und dabei platzieren wir nicht unser gesamtes Budget inhouse, weil es natürlich überall in Deutschland im Produzentenmarkt viele tolle, kluge Köpfe gibt. Wir werden also auch weiterhin mit großen und kleinen Produktionshäusern zusammenarbeiten. Als Wirtschaftsunternehmen müssen und dürfen wir uns aber bei einzelnen Programmstrecken die Frage stellen, ob es mehr Sinn macht, sie inhouse zu realisieren. Jobst Benthues hat die Redseven Entertainment nachhaltig klug auf- und ausgebaut. Dazu haben wir im letzten Jahr mit Christian Ulmen und Carsten Kelber die Pyjama Pictures gegründet. Aber beide Unternehmen zusammen werden es allein nicht schaffen, unseren enormen Programmhunger zu stillen. Der Produzentenmarkt muss sich also keine Sorgen machen. 

"Der Werbemarkt honoriert Haltung und Aufmerksamkeit"

Thomas Wagner, Chief Sales Officer

Stichwort Relevanz. Wir sprachen eben schon über die 15 Minuten von Joko & Klaas, aber dann gab es auch Thilo Mischkes Doku über Rechtsradikale in Deutschland. Solche Programme erzeugen Aufmerksamkeit. Welchen Effekt hat das gern strapazierte Wort Relevanz denn ganz praktisch in der Vermarktung? Die genannten Programme sind ja werbefrei… 

Thomas Wagner: Das war im Fall von Thilo Mischkes Reportage eine ganz bewusste Entscheidung und auch ganz klar eine Frage von Haltung. Und indirekt honoriert der Werbemarkt Haltung und Aufmerksamkeit, die solche Programme ausstrahlen. Brand Safety wird schon seit Jahren geschätzt. Dazu kommt jetzt aber auch Engagement für wichtige gesellschaftliche Themen wie u.a. auch Nachhaltigkeit. Dieses Thema wird uns 2021 noch stärker beschäftigen und ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie Vermarktung und Content frühzeitig miteinander planen, was wir hier umsetzen können.

Thilo Mischkes Doku und auch die „15 Minuten live“ von Joko & Klaas wurden kurzfristig ins Programm genommen, standen in keiner Programmzeitschrift und wurden trotzdem gefunden. Welche Erkenntnisse gewinnt man daraus?

Nicole Agudo Berbel: Dass starker Content seine Zuschauer findet. Obwohl wir sehr kurzfristig kommuniziert haben, haben diese linearen Angebote die junge Zielgruppe erreicht. Das sind spannende Erkenntnisse für die Programmgestaltung und -planung, weil manche Formate eben nicht sechs Wochen im Vorfeld geplant werden und zum Beispiel für Programmzeitschriften aufbereitet werden können. 2020 hat uns ja gezeigt, wie viel sich in nur sechs Wochen ändern kann – und wie flexibel wir darauf reagieren können. 

Thomas Wagner: (lacht) Ein bisschen Planungssicherheit brauchen wir für die Vermarktung aber natürlich schon. Solche Sendungen sind wertvolle und wichtige Ausnahmen.

Henrik Pabst: Die aber zeigen, wie sich der Informationsfluss geändert hat und dementsprechend auch unsere Kommunikationsstrategien. Wir erreichen Menschen mit linearen Programm-Highlights auch sehr kurzfristig und müssen Programme nicht mehr sechs Wochen vorher ins Regal stellen. Wir sind flexibel, trauen uns, aktueller zu sein und verkörpern mit diesen Erfolgen ein klares Sendungsbewusstsein unseres Hauses. 

Jetzt macht Netflix auf einmal lineares Fernsehen. Was halten sie davon?

Nicole Agudo Berbel: Über diesen Test in Frankreich wurde viel berichtet und natürlich beobachtet der Markt das aufmerksam. Allerdings unterscheidet sich das schon recht deutlich von dem, was wir und auch andere TV-Sender unter einem programmplanerisch gestalteten linearen Angebot verstehen. Wir machen uns viele Gedanken über den Audience Flow, führen das Publikum auch mal ganz bewusst im Anschluss an ein erfolgreiches Programm an andere oder neue Inhalte heran. Das ist weitaus mehr, als Content aus einem sehr breiten Angebot aneinanderzureihen. Wir haben deutlich positionierte Sender- und Contentmarken, bei denen die Zuschauer sehr genau wissen, was sie bekommen.

Herr Wagner, wenn jetzt immer mehr SVoD-Dienste genutzt werden, die werbefrei sind. Welche Auswirkungen hat das auf die Akzeptanz von werbefinanziertem Programm? 

Thomas Wagner: Wenn immer mehr Dienste untereinander um die Zahlungsbereitschaft des Publikums ringen, dann beobachte ich das als Vermarkter ganz beruhigt. Mit werbefinanzierten Inhalten bieten wir die gelernte Alternative, die auch von der großen Mehrheit bevorzugt wird. Ich sehe nicht, dass sich daran substanziell etwas ändert. Und als Vermarktungschef freue ich mich, dass eben diese SVOD-Angebote sehr stark auf das Fernsehen als Werbeträger setzen. Aus guten Gründen. 

Frau Agudo Berbel, Herr Pabst, Herr Wagner, herzlichen Dank für das Gespräch.