Deutschlands Provinz ist ein Strafgericht, seine Nemesis, Göttin des gerechten Zorns all derer, die dort leben, mehr aber noch all jener, die ihr entfliehen. Vom Darmstädter Speckgürtel der "Drombuschs" über alpine Geranienbalkonidyllen diverser Bergdoktoren oder Landärzte bis hin zur drolligen Vorhölle von Hengaschs Morden mit Aussicht: wer hiesige Heimatfilmfernsehunterhaltung sucht, findet darin vorrangig Hinterlandeier wie Mario Meurer, für dessen abgewanderte Sippschaft gilt: du kriegst den Menschen aus der Provinz, aber nie die Provinz aus den Menschen. Schöner Mist.

Genauer: Gas, Wasser, Scheiße.

Diesen Dreiklang handwerklicher Alltagsproblembeseitigung hat der Dorfklempner ja gerade erst vom frisch verstorbenen Vater, genauer: "Vadder" geerbt. Und wenn seine Hinterbliebenen ab heute Abend im Ersten nebst Anhang "Das Begräbnis" von Improvisationskünstler Jan Georg Schütte zwischen westlicher Ostsee und Mecklenburger Seenplatte aufsuchen, wird sofort klar: Wolf-Dieter Meurer mag sein Erbe mit Gas, Wasser, Scheiße gemehrt haben; beim postmortalen Kampf darum verbreitet vor allem letztere einen Geruch, der nur jenseits urbaner Ballungsräume so glaubhaft vom Bildschirm stinken kann wie hier.

Während die Enkelin Jacqueline (Luise von Finkh) beim Leichenschmaus im Provinzhöllendekors aus dunkler Eiche und Hirschgeweihen "Soljanka oder Bockwurst" serviert, beginnt die Restfamilie schon ihr Hauen und Stechen um den Nachlass. Schließlich hat das Testament Meurers zweite Frau Gaby (Catrin Striebeck) zur Alleinerbin gemacht. Leer ausgehen tun also nicht nur Betriebsleiter Mario (Charly Hübner) und seine Mutter Hildegard (Christine Schorn), sondern auch deren Tochter Sabine (Claudia Michelsen), das Ziehkind Anna (Anja Kling) und der Weltenbummler Thorsten (Devid Striesow), dem ein Rottweiler namens Ivan (Aleskander Jovanovic) in die ostdeutsche Pampa folgt, um brutal freundlich 100.000 Euro Schulden einzutreiben.

Wie in seinen vielfach preisgekrönten Fernsehexperimenten "Wellness für Paare" oder "Altersglühen", hat Jan Georg Schütte damit wieder einen Cast couragierter TV-Stars versammelt, die sich ohne wortgenaue Drehbücher ins Wagnis impulsgesteuerter Kammerspiele begeben. Wie zuletzt als Paartherapeut "Kravitz" gibt er ihnen damit die Gelegenheit, den theatralischen Perfektionsdrang geschliffener Sätze durch naturalistisches Stammeln zu entkrampfen. Und wie so oft gelingen den Darstellern dabei Dialoge wie jener, als Mario seinen Bruder nach dessen Familie fragt, worauf Thorsten sagt, "Kinder nicht, aber Frau… Frau… Frau hab‘ ich in… in… äh in – hab‘ ich".

Anders als im bisherigen Werk des gelernten Schauspielers, das er seit seinem Regiedebüt "Swinger Club" vor 16 Jahren zur umfassenden Kartei schauspielerischer Intuitionstalente ausbauen konnte, ist "Das Begräbnis" aber irgendwie eine Nummer zu groß geworden für Schüttes Minimalismus. Bislang nämlich brillierte fast jede seiner Improvisationen durch geringstmöglichen Aufwand. Abseits minimaler Regieanweisungen brauchten Schüttes Filme wie "Klassentreffen" bislang auch ausstatterisch nur wenig mehr als einen Raum und 18 Menschen, um die große, weite Welt auf Kneipengröße zu schrumpfen.

Hier allerdings hat er mehr als 50 Kameras zum Schaalsee südöstlich von Lübeck gekarrt, um ähnlich viele Figuren an Dutzenden von Drehorten beim Eskalieren aufgeblasener Situationen zu filmen. Aus unterschiedlicher Perspektive ausgesuchter Charaktere wie Versicherungsmakler König – geradezu brillant verkörpert von Dirk Martens – oder dem zurückgekehrten Kumpel – wunderbar geisterhaft dargestellt von Jörg Gudzuhn – des Toten, lässt Jan Georg Schütte die zwischenmenschlichen Abgründe seines arg diversen Ensembles sechsmal 45 Minuten so heftig kollidieren, dass weniger manchmal wohl doch ein bisschen mehr gewesen wäre. Einerseits.

Denn andererseits bleibt die Typisierung dieser shakespeareschen Auswahl wechselnd eigensüchtiger Figuren auch mit ein paar Zuspitzungen zu viel im Gepäck meistens glaubhaft genug, um die deutsche Provinz (ob inner- oder außerstädtisch) als das zu zeigen, was sie nun mal oft ist: ein Ort des gegenseitigen Belauerns über gestutzte Hecken und gehäkelte Kissen hinweg. Ein Ort der kaltherzigen Wärme oder umgekehrt. Ein Ort zum Fliehen und zum Zurückkehren, der Sehnsucht und der Abneigung. Im lässigen Country-Sound von Alex Komlew und Dominik Giesriegl mag "Das Begräbnis" also manchmal dicker auftragen als nötig.

Im Ergebnis zeigt die ARD durch Schüttes Blick, wie wenig Rüstzeug Schauspielerinnen und Schauspieler über den biografischen Rohbau hinaus brauchen, um gutes Fernsehen zu machen. Ein Fernsehen, das etwas sagt, ohne zu quasseln. Das unserer Alltagskommunikation nicht krampfhaft sämtliche Kanten abschleift. Das Wahrhaftigkeit fernab fiktionaler Perfektionszwänge sucht und manchmal sogar findet. "Muckelchen, nicht diese Krawatte", kriegt der Mittvierziger Mario von "Mudder" zu hören, als er den Spießerbarock seines Elternhauses zur Beerdigung verlässt, "ich hab‘ dir die hier von deinem Vater gegeben". Kann man sich nicht ausdenken, muss man so fühlen. Vorm Strafgericht der deutschen Provinz.

Das Erste zeigt "Das Begräbnis" ab sofort immer dienstags ab 22:50 Uhr. Schon jetzt stehen sämtliche Folgen in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit.