Irgendwer hat in der ARD einen Filmbaukasten herumliegen lassen. Gefunden hat ihn Alexander Adolph, der sich daraus für ein Drehbuch inspirieren ließ und gleich noch die Regie mit übernommen hat. Herausgekommen ist ein Baukastenthriller, der so künstlich zusammengesetzt ist, dass man die Risse zwischen seinen Handlungsklötzchen förmlich mit der Hand greifen möchte, obwohl sie doch übersetzt wurden in Filmbilder.
Die Handlung ist schnell erzählt. Die beiden „Tatort“-Kommissare Lindholm und Borowski, die sich sehr offensichtlich nicht kennen, sind auf einem Lehrgang vor den Toren von Braunschweig und stranden gemeinsam mit einem dritten Kollegen in einem Taxi. Zufällig. Im Taxi werden sie zur Schicksalsgemeinschaft, als der Taxifahrer kurzerhand dem Dritten im Bunde das Genick bricht und beschließt, die Kommissare auf eine unfreiwillige Dienstfahrt nach Leipzig mitzunehmen. Dort feiert seine Angebetete Hochzeit – mit einem anderen. Es geht um Leben und Tod. Natürlich.
Zum „Tatort“-Jubiläum nach fast 46 Jahren leistet sich die ARD also unter dem Titel des allerersten „Tatort“-Falls von 1970 ein Kammerspiel, eines, das vorwiegend auf sehr engem Raum spielt, bei dem es kein Entrinnen gibt. Dieses „Taxi nach Leipzig“ fährt geradewegs in den Tod, und es ist nicht das sonst übliche Wer-war‘s-Prozedere mit den 999mal angewandten Ingredienzien von „Was haben wir denn da?“ über „Wo waren sie gestern Abend zwischen 20 und 22 Uhr?“. Stattdessen geht es mittenmang in die Psychoküche, wo die geistige Gemengelage aller Beteiligten durch den Fleischwolf gedreht wird.
So etwas kann man machen, so etwas hat seinen Reiz. Wenn man es denn kann, wenn man es schafft, die Figuren so zu zeichnen, dass sich ihre Handlungen als Kenntlichmachung innerer Prozesse bewähren, dass die Dinge eine Zwangsläufigkeit entwickeln und den Zuschauer in einen Strudel hineinziehen, der ihn erst am Ende der 90 Minuten wieder in die Realität entlässt.
Den Strudel in diesem „Tatort“ muss man sich ungefähr so anziehend und gefährlich vorstellen wie den eines Handwaschbeckens mit halb verstopftem Abfluss. Nichts zieht hier in die Handlung, alles will erarbeitet sein.
Das beginnt schon bei den Kommissaren, deren Befindlichkeit offenbar nicht visuell zu transportieren ist, weshalb ihre Gedanken im Off gesprochen werden müssen.
Natürlich werden sie innerlich entkleidet, bis auf ihre Urängste nackt gemacht. Da ist Borowski, der mal wieder spürt, was für ein Idiot er sein kann. Da ist Lindholm, die hier als von den Eltern verlassenes Kind gezeigt werden muss, damit ihre aktuellen Ängste nicht komplett ohne Unterbau bleiben.
Nun könnte man eine schwache Drehbuchkonstruktion eventuell durch grandiose Schauspielerleistungen ausgleichen, aber weder Axel Milberg als Borowski noch Maria Furtwängler als Lindholm sind in der Form ihres Lebens. Sie sitzen die meiste Zeit einfach nur da und machen dumme Gesichter, während das Drehbuch in den Baukasten greift. Dort lagen offenbar die Thriller-Elemente „spontane Blitzaktionen gelingen den Opfern nie ganz“ und „Das Böse ist niemals tot, selbst wenn es so aussieht“ direkt neben der Anweisung „Verhalten Sie sich als fliehendes Opfer möglichst trottelig, sonst findet sie der Killer nicht.“
Das ist in weiten Teilen so absehbar, dass es schmerzt. Selten war der Blick zur Uhr so oft verführerischer als der auf den Bildschirm. Wie lange geht das denn noch?
Einzig der von Florian Bartholomäi gespielte Taxi Driver zeigt streckenweise so etwas wie Kontur. Er entwickelt trotz nervig auf Bühnenmonolog getrimmter Off-Gedanken zwischendrin die Faszination, die eigentlich alle Figuren attraktiv machen sollte. In seine Seele möchte man schauen. Was ist das passiert bei seinem Einsatz als Elitesoldat in Afghanistan? Ja, Afghanistan. Wenn es nach dem deutschen Fernsehfilm geht, trägt ja schon halb Deutschland ein Afghanistantrauma mit sich herum. Und ein 1000. „Tatort“ wäre kein 1000. „Tatort“, wenn er nicht in die Weltgeschichte hineinreichen würde und Fragen nach Schuld und individueller Verantwortung stellen würde. Eigentlich ist ja ein „Tatort“ erst dann ein „Tatort“, wenn sein Thema so relevant wirkt, dass es sich hinterher bei Anne Will diskutieren lässt.
Die Cineasten unter den Kollegen werden diesen Film natürlich trotzdem ganz toll finden, weil er so eine Menge von feinen Manierismen mit sich bringt wie etwa die plötzlich rot aufleuchtenden Szenerie zum Kapitelende, die in Ruhe gefilmte Straße, die unter den Scheinwerfern des Todesautos hinweghuscht oder die Alptraumsequenzen mit Anschluss in die Kindheit. Kann man alles machen, aber wenn dann im Niemandsland zwischen Braunschweig und Leipzig plötzlich auch noch Wölfe auftauchen, stellt man sich rasch die Frage, ob sich hier nicht inszenatorische Hilflosigkeit krachend Bahn bricht, ob hier nicht ein inszenatorischer Geisterfahrer unterwegs ist.
Da helfen auch ein paar schöne Kameraeinstellungen nicht, die Beobachtung des Bösen durch den Rückspiegel etwa. Es bleibt in der Summe ein gestückelter Versuch, Bedeutung zu simulieren. Und Spannung. Beides indes bleibt in Braunschweig zurück. Darüber tröstet auch nicht hinweg, dass wenigstens der Schluss noch eine Überraschung bietet, mit der man so nicht gerechnet hätte.
So bleibt der 1000. „Tatort“ ein Versuch, der stets als solcher zu entlarven ist und nie gelingt. Es folgen nun die nächsten tausend „Tatort“-Episoden. Vielleicht ist man ja beim nächsten Jubiläum, das geschätzt im Jahre 2060 fällig wird, ein bisschen klüger in der ARD. Man soll die Hoffnung nie aufgeben, auch nicht beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Das Erste zeigt "Tatort: Taxi nach Leipzig" am Sonntag um 20:15 Uhr.