Nun hat Deutschland also seinen ersten Olympia-Skandal. Es geht glücklicherweise nicht um Doping, und von der Tragweite des Falles eines ägyptischen Judokas, der seinem Kontrahenten aus Israel nach dem Wettkampf keinen Respekt zollte, indem er ihm den Handschlag verweigerte, ist der deutsche Olympia-Skandal weit entfernt. Nein, die Angelegenheit ist viel banaler, denn streng genommen ist gar nichts passiert: Weil Christoph Harting nach seinem Diskus-Triumph in Rio de Janeiro partout keine Lust hatte auf das obligatorische Sieger-Interview, nahm er sich doch glatt heraus, den freudig wartenden Reporter Norbert König mitsamt seinem orangefarbenen ZDF-Mikrofon schlicht links liegen zu lassen.
Dass Harting dann auch noch bei der Siegerehrung ein paar Faxen machte und während der Hymne nicht die ganze Zeit ehrfürchtig gen deutscher Fahne blickte, hatte weitreichende Folgen: Prompt schalteten viele Medien nämlich in den Hyperventilierungsmodus, der immer dann zum Einsatz kommt, wenn einer auch nur kurz vom üblichen Protokoll abweicht. Die "FAZ" ernannte Harting, der kurz zuvor mit beachtlichen 68,37 Metern den Diskuswurf seines Lebens absolvierte, zum "albernen Sieger" und attestierte ihm, nicht reif zu sein. Für Sport1 ist der 26-Jährige gar ein "Hampelmann" und das ZDF schlägt - offenbar noch beleidigt von Hartings Interview-Verweigerug - Stunden später gegen den Olympia-Sieger mit erstaunlichen Worten zurück.
"Ein Mann, der zudem teilweise über staatliche Gelder finanziert wird, sollte gerade in solchen Momenten Etikette mitbringen", hieß es allen Ernstes wortwörtlich in einem nächtlichen Beitrag, den das ZDF zeigte, als Harting auch seinen Besuch im Studio sausen ließ. "Irritiert" sei er gewesen vom Auftritt bei der Siegerehrung, sagte alsdann auch Rudi Cerne und fand den Sportler zudem "respektlos" gegenüber dem deutschen Bronze-Gewinner, der sich im Gegensatz zu Harting artig den Fragen des ZDF-Moderators stellte. Zu guter Letzt durfte sich dann auch der noch immer sichtlich pikierte Norbert König zu Wort melden. "Er ist erwachsen", sagte er über Harting und wollte damit doch eigentlich nur ausdrücken, dass er das in seinen Augen eben nicht ist.
ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz äußerte sich inzwischen ebenfalls. "Das ist ein einmaliger Vorgang und besonders bedauerlich für die vielen Fans vor dem Fernseher", sagte er - ganz so, als hätten Publikum und Sender ein Anrecht darauf, dass Sportler im Moment ihrer größten Erfolge zuallererst an die Medienarbeit denken, wo wir alle deren Erfolge doch erst durch unsere Steuergelder ermöglichen. Es ist eine sehr egoistische Denkweise, die da zu Tage tritt. Und eine, die zeigt, wie selbstverständlich das Zusammenspiel von Medien und Athleten mittlerweile geworden ist. Allein, es ist Hartings gutes Recht zu schweigen. Ebenso wie es sein gutes Recht ist, auf dem Podest eine Laola anzustimmen.
"Ich bin keine PR-Figur"
Nun muss man freilich nicht mögen, wie sich der Diskuswerfer verhielt, aber womöglich täten die Medienvertreter gut daran, Christoph Harting so zu akzeptieren, wie er ist – erst recht, wenn man bedenkt, dass dieser junge Mann sich zuvor sensationell vom undankbaren vierten auf den kaum für möglich gehaltenen ersten Platz katapultierte und damit ganz nebenbei auch noch die Familienehre rettete, nachdem sein favorisierter Bruder zuvor die Teilnahme am Finale verpasste. "Es sind meine ersten Olympischen Spiele. Und ich stand das erste Mal ganz oben bei internationalen Wettkämpfen", versuchte Christoph Harting später im Deutschen Haus zu erklären. "Das erste Mal wurde die Nationalhymne nur für mich gespielt. Egal, wie man versucht, sich das vorzustellen - man ist darauf nicht vorbereitet und so überwältigt von allen Gefühlen."
Alles nachvollziehbar. Sollte man meinen. Und doch tut es offenkundig Not, den Medien zu erklären, dass selbst ein Olympiasieger bloß ein Mensch ist und es eben nicht jeden Athleten zwangsläufig vor die Kamera drängt. Er sei "in erster Linie Sportler" und "keine PR-Figur, kein Medienmensch und Profi", sagte Harting beinahe entschuldigend. Das Stadion erachtet er als seine Bühne, nicht die Interviews fürs Fernsehen. Letztlich erwies er sich mit seiner Verweigerungshaltung aber einen Bärendienst, weil einige Journalisten in ihrem Hyperventilierungsmodus erst dadurch noch viel mehr über diesen eigensinnigen Typen in Erfahrung bringen wollten. Wenn genau diese Journalisten künftig also wieder einmal darüber jammern sollten, dass es hierzulande an Sportlern mit Ecken und Kanten fehlt, so sei ihnen gesagt, dass sie selbst einen nicht eben geringen Anteil daran haben.