Man kann zur "Lindenstraße" stehen wie man möchte, doch eines muss man den Serien-Machern um Hans W. Geißendörfer lassen: Über drei Jahrzehnte hinweg Woche für Woche aufs Neue Geschichten im Münchner Mikrokosmos um Mutter Beimer zu erzählen, ist eine große Leistung. Es ist sicherlich nicht schwer, sich über die "Lindenstraße" mit all ihren Figuren lustig zu machen, sie als in die Tage gekommenen Fernseh-Klassiker müde zu belächeln - anlässlich des Serien-Jubiläums, das am Sonntagabend über die Bühne ging, sollte man allerdings den Hut ziehen vor der Ausdauer und dem Bestreben, sich trotz aller Vorhersehbarkeit weiterentwickeln zu wollen.
Mit der Live-Episode, die das Team der "Lindenstraße" zum Geburtstag auf die Beine stellte, ist die Serie seit dem Wochenende um eine beachtliche Facette reicher. Das Erstaunliche: Selbst wer die letzten 20 Jahre und damit vermutlich mehr als 1.000 Folgen verpasst hat, konnte der Handlung der Jubiläumsepisode mühelos folgen. Welche serielle Produktion kann das schon von sich behaupten? So gesehen war es ein besonders kluger Kniff, Erich Schiller, den Ehemann von Mutter Beimer, ausgerechnet in dieser besonderen Folge sterben zu lassen und damit für einen echten Serien-Schocker zu sorgen. Gut möglich, dass mancher Gelegenheitsgucker nun angestachelt wurde und auch in der nächsten Woche wieder einschalten wird.
Irgendwie ist es ja so etwas wie staatsbürgerliche Pflicht zu wissen, wie Mutter Beimer den Tod ihres Gatten in den kommenden Wochen verkraften wird. Tatsächlich gehört diese von Beginn an von Marie-Luise Marjan verkörperte Figur gewissermaßen zum deutschen Kulturgut - und vermutlich gibt es in diesem Land fast niemanden, dem die "Mutter der Nation" in den letzten 30 Jahren beim Zappen durch die Programme nicht zumindest mal einige Augenblicke lang über den Weg gelaufen wäre. Doch ganz abgesehen von der zugespitzten Handlung war die Live-Folge schon alleine aus handwerklicher Sicht sehenswert: Etwa wegen der ebenfalls live gespielten Musik und Geißendörfers Mundharmonika-Einsatz gleich zu Beginn der Episode, aber auch wegen der Blicke hinter die Kulissen, die im Netz und bei Einsfestival ermöglicht wurden.
Diverse kleine Bild-Einblendungen zeigten, wie der Dreh auf dem Gelände in Köln-Bocklemünd abläuft, und wie stressig es werden kann, wenn nur wenig Zeit bleibt, um für die nächste Einstellung ein anderes Set zu erreichen. Ebenfalls schön für Fans: Das komplette Ensemble mit 34 Erwachsenen und neun Kindern stand zum Jubiläum vor der Kamera. Ganz fehlerfrei ging die Live-Folge dann allerdings doch nicht über die Bühne: So mancher Zuschauer stellte sich die Frage, ob Erich Schiller denn tatsächlich tot ist. "Nicht mit den Augenlidern zu zucken und irgendwie zu atmen, das war für mich wirklich eine große Herausforderung. Ich glaube, ein bisschen Zucken und ein bisschen Atmen hat man gemerkt", sagte Schauspieler Bill Mockridge, der schon vor einigen Monaten von seinem eher unfreiwilligen Serien-Aus erfuhr, nach der Ausstrahlung.
Auch dass an einer Stelle die aktuelle Uhrzeit - nämlich 19 Uhr - im Radio zu hören war, obwohl sich die Protagonisten ganz offensichtlich gerade beim Frühstück befanden, gehörte zu den kleinen Kuriositäten dieser unterm Strich gelungenen Geburtstags-Folge mit ihren 26 live gedrehten Szenen. Einer Folge, die recht eindrucksvoll belegte, dass die Luft auch nach 30 Jahren noch nicht vollends raus ist aus der "Lindenstraße". Ob sie trotzdem noch einmal genauso lange auf Sendung bleiben wird, darf dennoch bezweifelt werden. Schade wäre ein Aus letztlich aber schon alleine deshalb, weil es im deutschen Fernsehen abgesehen von "Tagesschau", "Tatort" oder dem "Sportstudio" gar nicht mehr allzu viele Konstanten gibt. Manches muss eben bleiben, weil es einfach dazugehört. Ganz egal ob man es mag oder nicht.