An manchen Tagen hat man das Gefühl, der Begriff "Hochamt" sei einst eigens für die "Tagesschau" erfunden worden. Seinen Ursprung hat er freilich in der Kirche, doch irgendwie passt diese Parallele, denn ähnlich behutsam, wie sich die katholische Kirche in den vergangenen Jahrhunderten gewandelt hat, geht auch der Veränderungsprozess bei der "Tagesschau" vonstatten. Zwar sieht "die 20 Uhr", wie die Fachmänner bei ARD-aktuell zu sagen pflegen, heute nicht mehr so aus wie damals, im Dezember 1952, als die erste Ausgabe über den Äther geschickt wurde. Das steife, fast schon staatstragende Verkünden der Nachrichten ist jedoch bis heute das Markenzeichen des Klassikers geblieben.

Selbstverständlich ist das einer der Erfolgsgründe für die Sendung, die noch immer Abend für Abend rund neun Millionen Zuschauer vor den Fernseher lockt. Das beharrliche Pflegen liebgewonnener Traditionen führt allerdings bisweilen dazu, dass jede noch so kleine Veränderung so kritisch beäugt wird, als stünden deshalb die Grundfesten unserer gesamten Gesellschaft auf dem Spiel. Als die "Tagesschau" ihren Sprechern vor etwas mehr als drei Jahren erlaubte, den Zuschauern nicht mehr nur einen guten Abend zu wünschen, sondern sie auch zu begrüßen und zu verabschieden, war das zwar nichts mehr als eine Floskel durch eine andere zu ersetzen, führte aber dazu, dass sich die Presse im Allgemeinen und die "Bild" im Besonderen überschlug, weil es um 20 Uhr plötzlich "menschelte".

Von "vorsichtigen Veränderungen" sprach der damalige Zweite Chefredakteur Thomas Hinrichs in diesem Zusammenhang und schob eilig hinter: "Das ändert selbstverständlich nichts an der generellen Ausrichtung, bei der Seriosität und Zuverlässigkeit im Vordergrund stehen." Wieso sollte auch die Seriosität darunter leiden, nur weil Jan Hofer dem Publikum an Ende der Sendung "einen schönen Abend" wünscht? Auch ARD-aktuell-Chefredakteur sah sich vor gut zwei Wochen zur Beschwichtigung gezwungen, als er kurz nach seiner Vertragsverlängerung im Stile einer kleinen Regierungsansprache im "Tagesschau"-Blog die Marschroute für "die Tagesschau bis 2020" ausgab.

"Keine Sorge (oder falschen Hoffnungen), die Tagesschau bleibt den 'harten' d.h. politischen Themen verpflichtet", schrieb Gniffke, nachdem er ankündigte, die Sendung werde sich "inhaltlich weiterentwickeln". Nicht, dass noch jemand auf die Idee kommt, die "Tagesschau" würde bald auch Unfälle mit Gurkenlastern in die Themenpalette aufnehmen. Zugleich versprach Gniffke übrigens, künftig mehr zeigen zu wollen "als Sprecher hinter einem Tisch mit kleinen Abbildungen im Hintergrund". Und: "Tagesschau-Zuschauer sollen quasi das ganze Bild bekommen." Wer es verstand, zwischen den Zeilen zu lesen, konnte an diesen sauber gewählten Worten bereits erkennen, dass in Hamburg mal wieder ein Revolutiönchen in Gang ist.

Und tatsächlich sollte es nicht lange dauern: Erst waren es herrenlose Beine im Studio, dann Cancan tanzende Sprecherinnen und Sprecher, die das Publikum auf "die neue Beinfreiheit" in der "Tagesschau" einstimmen sollten. Am Sonntag gab's schließlich pünktlich um 20:14 Uhr nach dem Wetterbericht erstmals die Beine von Jan Hofer zu sehen. Für insgesamt 24 Sekunden. Diese verrückten Typen von ARD-aktuell haben es also wirklich gewagt, eine zusätzliche Kameraeinstellung in ihr Repertoire aufzunehmen. Natürlich nicht, ohne die Zuseherschaft im Vorfeld mal wieder zu beruhigen: "Keine Sorge, das Konzept bleibt wie es ist", ließ Gniffke – diesmal via "Tagesspiegel"-Interview – ausrichten. Die "Bild" drehte daraufhin abermals am Rad und schrieb ein Stück weit enttäuscht, "Fans von Nachrichten-Schönheit Judith Rakers" müssten sich noch bis Dienstag gedulden, ehe auch sie Bein zeige.

Tagesschau mit Beinfreiheit© Screenshot ARD

Tags zuvor befragte "Bild" die frühere Chefsprecherin Dagmar Berghoff, die sich bereits um das finanzielle Auskommen ihrer Nachrichten-Nachfolger machte. "Lässige Jeans unten und schicker Blazer oben geht jetzt nicht mehr. Das ist sicher auch ein finanzieller Nachteil, denn die Sprecher müssen ihre Kleidung selbst kaufen." Das Blatt rechnete deshalb vor, dass Jan Hofer 3.000 bis 5.000 Euro pro Jahr für seine Arbeitskleidung ausgeben müsse, die er noch nicht mal steuerlich absetzen könne. Kein Wunder, dass er ständig in Promi-Quizshows auftreten muss. Sie selbst hätte früher übrigens auch gerne Beine gezeigt, ließ Berghoff die geneigten Leser noch wissen. Vermutlich wäre die "Tagesschau" auch an Berghoffs Beinen nicht zugrunde gegangen, aber ganz sicher hätte auch damals schon irgendein hohes "Tagesschau"-Tier beschwichtigt, dass die Sendung trotz allem nichts von ihrer Ernsthaftigkeit einbüßen werde.

Und überhaupt: Ganz so neu ist sie ja gar nicht, diese "Beinfreiheit" in der "Tagesschau". Claus Erich Boetzkes und seine Kollegen müssen tagsüber nämlich schon seit geraumer Zeit darauf achten, was sie untenrum tragen, wenn sie die Nachrichten verkünden. Das kam beim Publikum offenbar so gut an, dass nun mit einiger Verspätung also auch das "Hochamt" um 20 Uhr "das ganze Bild" seiner Sprecher vermitteln darf. Man darf bereits gespannt sein, wann sich die Riege um Jan Hofer erstmals bewegen wird. Zusammen mit dem obligatorischen Hinweis auf Beibehaltung sämtlicher journalistischer Standards wird Kai Gniffke dann vermutlich "einen großen Schritt für die Tagesschau" feiern. Das ist jedoch noch Zukunftsmusik - die Zuschauer sollen schließlich nicht überfordert werden. Erst die Beine, dann der Gang. Und nun die Wettervorhersage. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.