Hätte ich sie bloß nicht angeschaut; hätte ich es mir doch einfach verkniffen. Warum habe ich mir die weiteren Folgen von „Wayward Pines“ angeschaut? Am Ende war es die pure Neugier, die mich in Versuchung geführt hat. An diesem Donnerstag startet die Fox-Serie als größter globaler Serien-Launch, den es bisher gab - in den USA sowie auf all den Fox-Sendern rund um den Globus. In Zahlen bedeutet das: In 33 Sprachen und 125 Ländern beinahe gleichzeitig. Im Vorfeld der linearen Ausstrahlung steht die Auftaktfolge der zehnteiligen Serie von Produzent M. Night Shyamalan bereits online zur Verfügung - und die meisten Kritiken zur Serie beziehen sich genau auf diese erste Folge.
Ein Urteil dazu wäre so viel einfacher geworden. Will da jemand „Twin Peaks“ kopieren? Sich hier und da dreist Elemente anderer Serien bedienen? Eine der beiden Fragen lässt sich verneinen, die andere bejahen, wenn man mehr gesehen hat. Wir hatten die Gelegenheit schon weitere Folgen der Serie zu sehen. Es sollte eigentlich helfen, nicht über die Katze im Sack zu schreiben, denn nichts ist enttäuschender als die nächste TV-Serie, die erst allerlei Mysterien schafft und sie dann nicht vernünftig auflöst. Noch dazu gelang Produzent M. Night Shyamalan zwar in den 90ern mit „The Sixth Sense“ mal ein sehr guter Film - doch danach nie wieder ein vergleichbarer Erfolg. Ob also die Tatsache, dass dies seine erste TV-Serie ist, wirklich als Qualitätsmerkmal taugt?
Nach Sichtung der halben Staffel „Wayward Pines“ lässt sich sagen: Die Serie mit Matt Dillon in der Hauptrolle des Secret Service Agent Ethan Burke sollte man gesehen haben. Leider lässt sich das nur nicht begründen, ohne zu viel dieser ungewöhnlichen Serie zu verraten. Basierend auf der Buchidee von Blake Crouch und fürs Fernsehen adaptiert von Chad Hodge, ist „Wayward Pines“ auf jeden Fall eine der erfrischendsten Network-Serien seit langer Zeit. Sie bemerken die kleine Einschränkung? Gut. Aber was ist nun so erfrischend? Ach, es wäre wirklich so viel einfacher gewesen, die Serie nach Sichtung der Pilotfolge als „Twin Peaks“-Abklatsch abzustempeln.
„Wayward Pines“ bedient sich tatsächlich bei so vielen Vorbildern, dass es unmöglich ist, alle zu erwähnen. Insbesondere deshalb nicht, weil manche Hommage in den späteren Folgen schon etwas von der Handlung dieser scheinbar mysteriösen Serie preisgeben würde. Aber schon die Auftaktfolge hinterlässt beim Publikum die Wirkung eines starken Cocktails: Viele gute und bekannte Zutaten, doch ob die Mischung bekommt? Jetzt lässt sich bekanntlich über Geschmack (nicht) streiten, aber bei „Wayward Pines“ gilt: Vertrauen Sie der Serie. Ja, es beginnt mit einem Augenaufschlag wie einst in „Lost“. Secret Service Agent Ethan Burke war nach Wayward Pines gereist, um in der vermeintlich idyllischen Kleinstadt das rätselhafte Verschwinden zwei seiner Kollegen aufzuklären.
Doch es scheint als hätte er auf dem Weg dorthin einen Unfall gehabt. Wir wachen mit Ethan orientierungslos in einem Wald auf. Sein Geld ist ebenso weg wie sein Handy. Für seine Familie und Kollegen ist Ethan plötzlich spurlos verschwunden. Kontaktversuche seinerseits wollen auf mysteriöse Weise nicht funktionieren. In „Wayward Pines“ begegnet man ihm freundlich, aber sehr reserviert. Fragen werden nicht gerne beantwortet und mysteriöse Dinge lassen Ethan - und uns als Zuschauer - an diesem Ort zweifeln. Was ist bloß los in Wayward Pines? Wird er jemals nach Hause zurückkehren und wenn ja: Auch lebend? An dieser Stelle erinnert die Serie manchen Zuschauer sicher an „Eureka“, andere an „Under the Dome“. Oder eben „Twin Peaks“.
Die Farben, die Kamera-Einstellungen und Dialoge haben jedoch einen sehr eigenen Stil. Independent Movie trifft Scandivanian Noir - aber all das so knackig und knallig wie eine Network-Serie es zu brauchen scheint. All das zahlt ein auf die eigenartige Atmosphäre von „Wayward Pines“, einer Serie, die nicht in die Geschichtsbücher eingehen wird als Meisterwerk, doch sie unterhält mit ihren Rätsel und Auflösungen, über die man mal staunt, mal lacht. Es ist ein schnelles, in zehn Folgen abgeschlossene Vergnügen für zwischendurch und damit in einer Zeit, in der Mini-Serien beinahe ausschließlich im Krimi-Genre zuhause sind, eine willkommene Abwechslung in diesem Sommer.
Also alles einfach gut kopiert statt schlecht selbst erdacht? Der Autor der Buchvorlage, Blake Crouch, erzählte mir bei einem Gespräch in London, dass er absolut kein Problem damit habe, wenn Zuschauer in „Wayward Pines“ Elemente entdecken, die ihnen bekannt vorkommen. Er sagt das mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit. Er sei großer Fan vieler Serien und Bücher dieses Genres. So zu tun als hätten diese ihn nicht beeinflusst, hält er für albern. „‚Wayward Pines‘ ist eine Hommage an viele Geschichten - und erzählt gleichzeitig eine ganz eigene. Mit einer Auflösung, die so mit Sicherheit niemand kommen sieht“, verspricht Crouch beim Get Together nach der Europa-Premiere der Serie in London. Hauptdarsteller Matt Dillon pflichtet ihm im Vorbeigehen bei.
Neben ihm spielen übrigens einige wunderbare Kolleginnen und Kollegen. Die möglicherweise köstlichste Rolle spielt Melissa Leo: Krankenschwester Pam. Und dann ist da Terrence Howard. Als er die Rolle des Sheriff Arnold Pope übernahm und zehn Folgen „Wayward Pines“ drehte, gab es „Empire“ noch nicht - jener unbeschreibliche Überraschungserfolg für Fox der vergangenen TV-Saison mit ihm in der Hauptrolle. Heute lacht man sich bei Fox ins Fäustchen: Der Star aus „Empire“ bringt zusätzliches Publikum für „Wayward Pines“. So zumindest die Hoffnung beim Heimatpublikum in den USA. Doch sie muss sich nicht darauf verlassen. „Wayward Pines“ ist ein spannendes, sehenswertes Rätsel - mit einer überraschenden Auflösung bereits in der fünften von zehn Folgen.