Es muss etwa 15 Jahre her sein, dass ich zum ersten Mal einen Darts-Pfeil in der Hand hielt. Recht schnell wurde mir klar, wie schwer es ist, diese kleinen, nur wenige Millimeter breiten Doppel- und Triple-Felder auf der Scheibe zu treffen, hinter denen sich die hohen Punkte verbergen. Seither weiß ich, dass dieses Spiel das Zeug dazu hat, einen zur echten Verzweiflung zu bringen, wenn es mal wieder nicht gelingt, die Pfeile dort zu platzieren, wo sie eigentlich hingehören. Und es gelingt wahrlich nicht oft. Aufgehört zu spielen habe ich nie, auch wenn mir meine eigenen Punktzahlen häufig Tränen in die Augen gespült haben. Häufig ging's sogar um Geld. 50 Cent oder ein Euro für ein verlorenes Spiel. Nicht viel, sagen Sie? Doch es läppert sich und reicht nach einiger Zeit schon für einen kleinen Städte-Trip.
Dass ich immer wieder versuchte, mit den kleinen Pfeilen diese noch kleineren Felder zu treffen, hängt wohl vor allem damit zusammen, dass es so einfach aussieht. Es muss doch irgendwie möglich sein, mit drei Würfen eine halbwegs ansehnliche Punktzahl zusammenzukriegen. Tatsächlich stellt sich irgendwann, ganz unvermittelt, ein Glücksgefühl ein. Es ist dieser Moment, in dem die Spitze des Pfeils tatsächlich mal in der Triple 20, dem höchsten Einzelfeld, landet. Ein seltenes Glücksgefühl zwar, aber eines, das neue Hoffnung bringt - und dafür sorgt, einfach nicht aufzuhören. So geht das nun also schon seit Jahren. Trotz vieler Niederlagen und Enttäuschungen, wenn's dann doch mal wieder nur drei oder sieben Punkte sind und nicht die erhofften 60.
Gute Spieler schaffen es, mit nur neun Pfeilen 501 Punkte "auszuchecken", wie der Fachmann sagt. Von einem "perfekten Wurf" ist dann die Rede. Ich bin mittlerweile ein Fachmann - nicht, weil ich hin und wieder mal mit drei Würfen und mehr Glück als einer ruhigen Hand über 100 Punkte pro Wurf schaffe, sondern weil ich infiziert bin. Vor ein paar Jahren, es muss zwischen Weihnachten und Silvester gewesen sein, lag ich - den Magen noch voll von all den Plätzchen und den Köstlichkeiten, die das Fest für gewöhnlich mit sich bringt - auf dem Sofa und zappte mich durch die Programme. Mag sein, dass Weihnachten das Fest der Filme ist. Doch es war kein Film, der mich fesselte, auch wenn sich das, was ich da sah, vor guten Krimis nicht verstecken musste.
Mann gegen Mann im Scheinwerferlicht, dahinter die tobende Masse. Und von der Seite ein älterer Mann, der plötzlich laute Schreie von sich gibt. "Oneeeeehundreeeedandeiiightyyy!" Willkommen bei der Darts-WM.
Immer wieder schaute ich seither rein. Zunächst nicht regelmäßig, aber doch so häufig, dass mir die besten Spieler inzwischen geläufig waren. Wenn einer Phil Taylor nicht kennt, ziehe ich bisweilen verächtlich die Augenbraue hoch. Taylor ist ein echter Gott, hat 16 Mal die Weltmeisterschaft gewonnen und schickt sich gerade an, seinen 17. Titel zu gewinnen. Ein Adonis ist er nicht, dieser Phil Taylor. Wie überhaupt keiner der besten Darter das Zeug dazu hätte, ab dem nächsten Ersten bei den Chippendales mitzumachen. Ich kann das beurteilen, denn mittlerweile schaue ich nicht mehr nur sporadisch zu, wenn mich mein runder Weihnachtswanst in die hinteren Programmplätze treibt. Spätestens seit diesem Mal sitze ich jeden Abend vor dem Fernseher, wenn sich wieder zwei tätowierte Herren in weiten Hemden duellieren.
Ich bin ein Fan geworden, sitze schon vor Weihnachten gebannt vor dem Fernseher, wenn diese oft etwas unförmigen Männer da vorne stehen und unter den lauten Rufen der zumeist herrlich bunt verkleideten und schon längst nicht mehr nüchternen Fans einen 180er nach dem anderen werfen. Und auch wenn die besten Spieler inzwischen längst Millionäre sind, so stehen da vorne keine abgehobenen Superstars, sondern welche, die so sind wie du und ich. Nur eben ausgestattet mit deutlich mehr Feingefühl in den Fingern. Inzwischen kenne ich sie alle. Michael van Gerwen, den amtierenden Weltmeister, Stephen Bunting, der gerade die Serie gewechselt hat und unglücklich im Viertelfinale ausgeschieden ist, oder "Snake Bite", einen Mann, der sein Alter mit blau gefärbten Haaren und einer Schlangenbemalung am Kopf zu kaschieren versucht - was ihm eher nicht gelingt. Natürlich nicht.
Aber er passt zu all den etwas irren Fans. Selbst Prinz Harry und andere Stars mischen sich unter die Menge, wenn die Pfeile fliegen. Steffen Freund etwa, der als Teletubbie verkleidet kaum auffällt zwischen diesen vielen Verrückten, die den Dartssport lieben, den Pint auf ihrem Tisch aber vielleicht noch ein kleines bisschen mehr. Rund drei Liter soll jeder Zuschauer am Abend runterschlucken. Es ist das einzige Doping, das diese Sportart kennt. Wer jedoch denkt, die Fans kriegen schon längst nicht mehr mit, was sich da vorne auf der Bühne eigentlich abspielt, liegt weit daneben. Sie unterstützen "the Power", "Bullet" und wie sie alle heißen derart lautstark, dass manche Werfer inzwischen dazu übergegangen sind, sich Watte in die Ohren zu stecken.
Und dann dieser Jubel, der ausbricht, wenn fast 3.000 Fans im "Ally Pally", wie sie den legendären Alexandra Palace im Londoner Norden nennen, gerade Zeuge werden, wie einer der Profis mal wieder die volle Punktzahl holt oder ein sogenanntes "High Finish" schafft - also beispielsweise mit nur drei Pfeilen von 170 auf 0 zu kommen. Manch einer, so heißt es, genehmigt sich gar bei jedem 180er-Wurf ein Schäpschen. "Wir sind alle Ally Pally", sagt schließlich der Fernseh-Kommentator, als einer der Profis gerade vorübergehend im Schnitt mehr als 120 Punkte pro Runde wirft und die Masse nun vollends aus dem Häuschen ist. Kein Halten gibt es schließlich, als Adrian Lewis den Neun-Darter hinkriegt. Das sind jene Momente, in denen ich mit offenen Augen vor dem Fernseher sitze und mich frage, warum zum Teufel ich das in 15 Jahren noch kein einziges Mal geschafft habe.
Es ist eine Faszination, die von dieser Sportart mit ihren unprätentiösen Stars ausgeht - eine, der immer mehr Zuschauer erliegen. Bis zu eine Million schalten mittlerweile Abend für Abend ein, wenn die Übertragungen bei Sport1 beginnen. Vermeintlich populärere Sportarten wie Handball oder Basketball können davon in der Regel nur träumen, doch diese krude Mischung aus Präzision bei gleichzeitiger Oktoberfest-Stimmung, versehen mit diesen herrlich verrückten Kommentatoren, die Sport1 Jahr für Jahr nach London schickt, ist tatsächlich nur schwer zu übertreffen, sofern man sich einmal darauf eingelassen hat.
Wenn sich Elmar Paulke gemeinsam mit seinem auf den Spitzenamen "Shorty" hörenden Experten eine Minute lang darüber auslässt, wieso Raymond van Barneveld plötzlich völlig unverhofft seine Brille auspackt, dann ist das großes Kino. "Entweder er sieht ohne Brille oder er sieht mit", wundert er sich - und fragt schließlich, wie er es mit der Sehhilfe wohl beim Autofahren hält. Toll auch, wie sich der erst 18-jährige Max Hopp, eine der großen deutschen Hoffnungen, am Freitagabend bei seiner Premiere als Co-Kommentator schlug. Natürlich nerven die Kommentare auch manchmal. Doch Zeit für einen Plausch bleibt selten, denn schon geht es weiter. Der nächste 180er wartet und ich bin mir sicher: Bei der nächsten WM sitze ich auch im Ally Pally. Es muss ja nicht gleich das Teletubbie-Kostüm sein.