Der Markt für anspruchsvolle TV-Serien wächst und gedeiht. Immer mehr Sender entdecken eigenproduzierte Fiction als wichtige Waffe im härter werdenden Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Auch kleinere Sender und solche, die bislang nur auf andere Genres gesetzt haben, steigen ein und präsentieren dem Publikum stolz ihre Premieren-Staffeln. Schließlich wollen sie sich ungern von den aufstrebenden VoD-Portalen links überholen lassen.

Klingt vernünftig - aber so gar nicht nach deutscher Branchenrealität. Die Bestandsaufnahme bezieht sich auf den US-Markt, wo neue Serien tatsächlich wie Pilze aus dem Boden sprießen, und zwar an vielen Stellen, die dafür noch vor zwei, drei Jahren völlig unverdächtig gewesen wären. Am 27. Februar startet auf History bereits die zweite Staffel von "Vikings", der allerersten fiktionalen Serie des ansonsten auf Dokus und Factual Entertainment spezialisierten Kabel-Networks. Der Schwestersender A&E, dem Fiction ebenfalls lange fremd war, legt am 3. März mit der zweiten Staffel von "Bates Motel" sowie dem Neustart "Those Who Kill" mit Chloé Sevigny nach.



Aus deutscher Sicht klingt das nach dem reinsten Serien-Schlaraffenland. Denn auch die Sendergruppe AMC Networks hat neben ihrem Flaggschiff AMC ("Breaking Bad", "Mad Men", "The Walking Dead") mit den kleineren Sendern SundanceTV und IFC neue Outlets geschaffen, die im Laufe des vergangenen Jahres ihre ersten eigenen Serien gezeigt haben. BBC America ist neben der Weiterverbreitung britischer Fernsehkost in die Eigenproduktion eingestiegen. Als der Fox-Kabelsender FX Networks im Herbst seinen Ableger FXX für junge Männer an den Start brachte, war es für die Verantwortlichen selbstverständlich, dass neben zahlreichen Syndication-Serien auch zwei bis drei neue Eigenproduktionen pro Jahr auf den Schirm kommen. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen.

Würde man den US-Zustand maßstabsgetreu auf den deutschen TV-Markt übertragen, so hieße das, dass alle - oder zumindest viele - Sender ab der Größe von Tele 5 aufwärts ihre eigenen fiktionalen Serien haben müssten. Das scheint gegenwärtig undenkbar. Mit Ausnahme von RTL, Sat.1 und den Öffentlich-Rechtlichen sind alle anderen aus der Serienproduktion aus- bzw. gar nicht erst eingestiegen. Zarte, hoffnungsvolle Pflänzchen wachsen allenfalls auf Seiten des Pay-TV mit dem Grimme-Preis-gekrönten TNT-Serie-Vorstoß "Add a Friend" und den angekündigten Koproduktionen von Sky.

Warum aber nicht bei wirtschaftlich solide aufgestellten und als Vollprogramm lizenzierten Sendern der zweiten Privat-TV-Generation wie Vox oder kabel eins? Wann immer man mit Senderchefs über diese Frage spricht, fällt sofort das Totschlagsargument der zu hohen Kosten. Sowohl die eingekauften US-Serien als auch die eigenproduzierten Factual-Entertainment-Formate sind für ein Fünftel oder Sechstel dessen zu haben, was eine eigene Serie kosten würde. Hinzu kommt in jüngerer Vergangenheit ein Argument hinter vorgehaltener Hand: Angesichts der massiven Probleme der Großen, neue Serien erfolgreich zu etablieren, ist man heilfroh, sich diesen Klotz nicht auch noch ans Bein binden zu müssen.

Dabei lassen sich beide Argumente auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Selbst in den USA, wo viele Entscheider bis vor kurzem ähnlich gedacht haben, sind die meisten Kleinsender nicht in der Lage, einfach so die Millionen auf den Tisch zu legen, wie es die großen Networks während der gerade laufenden "Pilot Season" wieder einmal tun. Laut "Hollywood Reporter" sind bis jetzt 91 Piloten bestellt, die durchschnittlich zwischen sechs und acht Millionen Dollar pro Stunde kosten. Die Serien der Kabelsender kosten - von wenigen Ausnahmen abgesehen - viel weniger und werden auch ganz anders finanziert. "Vikings" etwa, die brutale Familiengeschichte des Wikingers Ragnar Lodbrok im frühen Mittelalter, ist eine kanadisch-irische Koproduktion, die mit Hilfe lokaler Filmförderung in Irland entsteht. History leistet sich lediglich die Rechte für Nordamerika, der Rest liegt bei MGM Television als Weltvertrieb. MGM wiederum lizenziert nicht nur an TV-Sender, sondern auch an Lovefilm fürs VoD, und vermarktet die Serie auf DVD.

Hoch gelobte und international erfolgreiche Spartensender-Serien wie "Top of the Lake" und "Rectify" von SundanceTV oder "Orphan Black" von BBC America sind allesamt als Koproduktionen diverser Partner entstanden, im letzteren Fall stammt die Entwicklung von einer kanadischen Filmhochschule. Auch die VoD-Plattformen spielen eine immer größere und immer frühere Rolle für die Finanzierung. So war etwa das komplette 40-Millionen-Dollar-Budget der CBS-Serie "Under the Dome" im vorigen Sommer vorab durch einen exklusiven Streaming-Deal mit Amazon sowie den internationalen Vertrieb gesichert - eine Konstellation, die selbst CBS als großes Network für die werbeschwächeren Sommermonate gern in Kauf nahm.

Auch wenn keiner dieser Fälle eins zu eins auf den deutschen Markt übertragbar ist, unterstreichen sie alle die Erkenntnis, die TV-Produzent Peter Nadermann Mitte Februar im Gespräch mit DWDL.de formuliert hat: "Der deutsche Fernsehmarkt neigt dazu, seine Produktionen fast ausschließlich selbst zu finanzieren, und meidet Koproduktionen. Das führt dazu, dass die Kosten für Fiktion außergewöhnlich hoch sind, ohne dass dabei viele herausragende Produktionen entstehen können", so der Chef von Nadcon Film und langjährige Koproduktionsexperte. Für kleinere Sender läge hierin sogar die einzige Chance. Es wäre ein Missverständnis, von der zweiten Sendergeneration die Alleinfinanzierung einer Serie zu erwarten.

Notwendig wäre in jedem Fall mehr Flexibilität in den Köpfen, als sie heute vorhanden ist, aber auch, als sie noch vor wenigen Jahren in den USA vorhanden war. Neben der sinnvollen Partnersuche im Ausland drängen sich für Koproduktionen mehr und mehr auch Partner im eigenen Land auf - beispielsweise Pay-TV-Sender, die ein exklusives Vorab-Verwertungsfenster bekommen könnten, oder VoD-Plattformen, die ein zeitnahes Streaming-Recht erhielten. Von den beiden großen kommerziellen Senderfamilien würde das freilich erfordern, dass sie zumindest projektweise ihren Total-Buyout-Wahn zurückstellen.

Die Frage ist: Würde sich das für eine eigene Serie bei kabel eins oder Vox lohnen? Während RTL II mit den überaus erfolgreichen Dailies "Berlin - Tag & Nacht" und "Köln 50667" seine ganz eigene Form der Serie gefunden hat, die im angepeilten Zielgruppensegment für Zuschauerbindung par excellence sorgt, fehlt den beiden Konkurrenten ein solch identitätsstiftender Faktor. Sowohl kabel eins als auch Vox waren mit ihrem jeweiligen Lizenzserien-Dokusoap-Mix schon einmal klarer positioniert als heute. Auf der einen Seite haben sie hausinternen Druck durch die kleineren Zielgruppensender. Eine Top-Serie wie "The Americans" etwa, die jetzt bei ProSieben Maxx läuft, hätte zuvor sicher kabel eins geschmückt. Auf der anderen Seite tun sich Doku-Eigenproduktionen wie "Real Cool Runnings" oder "Endstation Wildnis" zunehmend schwer.

Bedarf wäre also vorhanden für eine neue Farbe, die dem Image wie der Zuschauerbindung auf die Sprünge helfen könnte. Wer weiß, ob man für das Budget von vier oder fünf halbgaren Doku-Soaps nicht schon längst eine funktionierende Serie hinbekommen hätte? Für die langfristige Wertschöpfung könnte das eine interessante Alternative sein. Anders als bei RTL oder Sat.1 läge die Chance darin, dass man Stoffe für eine klarer fokussierte Zielgruppe entwickeln könnte und nicht der vollen Publikumsbreite gefallen müsste. Produzenten und Autoren würden Schlange stehen. Und selbst der Werbemarkt, der in den USA diesbezüglich wesentlich weiter ist, sendet positive Zeichen: Auch deutsche Media-Agenturen fordern von den Sendern zunehmend vehement Programmqualität ein. Wer den ersten Schritt in Richtung Serien-Schlaraffenland unternimmt, könnte belohnt werden.