Sie kennen das auch. Dieses unangenehme Gefühl, wenn man weiß, dass man auf einer Party oder einer Veranstaltung möglicherweise dieser einen Person über den Weg laufen könnte, die man so gar nicht treffen will. Und jetzt stellen Sie sich mal vor, es ginge um eine Freundin aus Schulzeiten, die sie 17 Jahre nicht gesehen haben - weil diese Freundin so lange wütend im Gefängnis saß für ein Verbrechen, dessen auch Sie damals beschuldigt wurden. Aber sie konnten das Gericht überzeugen, dass es ihre Freundin war. Nur um die eigene Haut zu retten. Dieses Wiedersehen könnte unangenehm werden. Um diese Begegnung und die Aufarbeitung eines alten Mordfalls in einem kleinen Küstenstädtchen geht es in einer brandneuen Mini-Serie des britischen Senders ITV namens "Ice Cream Girls".
Drei mal 45 Minuten lang wird die Geschichte der Buchvorlage eindringlich und eindrucksvoll erzählt. Bei der Preview im Keller der Europa-Zentrale von Sony Pictures Television, dem Produzent der Serie, im Londoner Szene-Viertel SoHo folgt danach ein Q&A mit den Produzenten und Schauspielern. Erst lausche ich noch, doch als die anwesende britische Boulevardpresse anfängt, private Fragen zu stellen, schalte ich ab und beginne, mich etwas ganz anderes zu fragen: Was machen eigentlich dreimal 45 Minuten zu einer Serie? Und in Deutschland längere Produktionen wie z.B. das gerade gelaufene "Unsere Mütter, unsere Väter" wiederum zum Mehrteiler? Das mag man als Wortklauberei abtun, aber je länger ich im immer noch abgedunkelten Screening-Saal darüber nachdenke, umso mehr stellt sich mir die Frage, ob wir deutsche Fiction zu oft unter Wert wahrnehmen, weil wir so gerne in Schubladen denken.
In den vergangenen Monaten, wenn nicht sogar Jahren, ist es ja zum Sport geworden, das in Deutschland weitgehend als Kostenlos-Medium wahrgenommene Fernsehen mit Hohn und Spott zu überziehen. Oftmals auch zu Recht. Auf Anhieb lassen sich dutzende Sendungen oder ganze Sender nennen, die nicht nur überflüssig, sondern beschämend sind - nach handwerklichen und künstlerischen Gesichtspunkten. Es gibt in der Tat so viel schlechtes Fernsehen wie noch nie zuvor in Deutschland. Gleichzeitig aber auch so viel gutes Fernsehen wie nie zuvor. Nur bei den Serien - da schwärmen wir gerne von den Highlights aus dem US-Fernsehen. Oder dem Besten aus Großbritannien. Dabei hatten auch wir in den letzten Jahren starke Serien wie "Der Tatortreiniger", "Weissensee", "Im Angesicht des Verbrechens", "Der letzte Bulle", "Danni Lowinski", "Mord mit Aussicht", "Doctors Diary", "KDD - Kriminaldauerdienst", "Türkisch für Anfänger" oder "Pastewka".
Aber trotzdem sind US-Serien das Maß der Dinge und Journalisten wie deutsche Sender überholen sich gern gegenseitig im Ausrufen der neuen Kultserie von drüben. Da kann die deutsche Serie nicht mithalten. So jedenfalls lautet oft der Tenor der Berichterstattung zu "Mad Men", "Breaking Bad" und Co. Doch so einfach man es sich macht, wenn man einzelne Sendungen oder Sender im deutschen Fernsehen als Beleg für den katastrophalen Zustand bei uns zitiert, so einfach macht man es sich umgekehrt mit der Lobpreisung des amerikanischen oder britischen Fernsehens anhand einzelner Produktionen. Die deutsche Fiction ist besser als es in Deutschland manchmal den Anschein hat. Das sage nicht ich, sondern die internationalen Programmeinkäufer bei Fernsehmessen wie der in Kürze wieder stattfindenden MIPTV im südfranzösischen Cannes. Deutsche Dokumentationen, aber eben gerade auch deutsche Fiction kommt auf dem TV-Weltmarkt seit Jahrzehnten gut an. Das wird zuhause in Deutschland nur oft nicht so wahrgenommen, weil es da nicht um Serien geht. Sondern um Fernsehfilme und Mehrteiler. Disziplinen, in denen deutsche Produktionen den Amerikanern in nichts nachstehen.