Ein Schrei sagt oft mehr als 1000 Worte. Um Gefühle zu deuten, genügt daher, sagen wir: ein Kinderlachen, Katzenjammer oder Jodeleinlagen, die wie "Woohoo" klingen. Seit einer Weile geben manche Menschen damit einer Verzückung Ausdruck, die deren Ursache gern überbewertet. Umso mehr sagt ein Schrei hier mehr als 1000 Worte, wenn er mal ausbleibt. Vox zum Beispiel, dieser wohltuende Ausnahmefall im Reizgewitter werbefinanzierter Sender: Als die kleine Schwester vom Big Brother RTL im hippen Gründerzentrum unter Beweis stellte, warum sie ein bisschen anders ist als die kommerzielle Konkurrenz, war ebenfalls viel Hauspersonal zum Jubeln an die Alster gereist. Doch während Vox-Chef Bernd Reichart mit akkurat zerfetzter Jeans und Headset das Hohelied aufs Erfolgsmodell "Die Höhle der Löwen" sang, war im Auditorium nichts zu hören außer: Applaus.
Der war indes auch angemessen. Schließlich schreibt das Factual Entertainment gerade Fernsehgeschichte. Seit RTL das Hire-or-Fire-Genre 2004 mit "Big Boss" in den Sand gesetzt hatte, glaubte hierzulande kein Verantwortlicher mehr an einen Nachfolger von Reiner Calmund als Donald Trump. Bis Vox vor zwei Jahren die britische "Dragon’s Den" kopierte und mit dem Konzept junger Unternehmer, die fünf mehr oder minder prominente Investoren vor laufender Kamera von ihrer Idee überzeugen wollen, einen Coup landete. Das Format erzielte ja nicht nur Quoten überm Senderschnitt, die in der zweiten Staffel weiter zulegten; im privatfernsehkritischen Feuilleton gab es zudem ungewohnt positives Feedback und in Düsseldorf unlängst den Deutschen Fernsehpreis. Außerdem erntet es Zuspruch in der Gründerszene, die der Reality-Show eine Stärkung der Startup-Kultur attestiert.
Nicht schlecht für eine Sendung, die nach journalistischen, ethischen, juristischen Kriterien fragwürdig ist. Warum, das offenbarte zwischen fehlenden Woohoos die Vorstellung der dritten Staffel in Hamburg. Auf der Bühne saß neben den Platzhirschen Jochen Schweizer, Judith Williams und Frank Thelen das Verkaufsgenie Ralf Dümmel, der es fern jeder Nachhaltigkeit vom Hauptschüler zum Millionär gebracht hat. Beim zweiten Neuling sind es drei weitere Nullen auf dem Konto: Carsten Maschmeyer. Der niedersächsische Gründer des Finanzdienstleisters AWD ersetzt den hanseatischen Reiseveranstalter Vural Öger und somit einen insolventen Investor durch den vielfach verhassten. Kaum ein Unternehmer ist hierzulande umstrittener als die Nummer 118 im Ranking der reichsten Bundesbürger, wo er angeblich auch dank dubioser Geschäftspraktiken und Kontakte zur Politik steht. Chefredakteur Kai Sturm betont zwar, ihn als "anständigen Geschäftsmann kennengelernt" zu haben. Und in der dritten Staffel zeigt sich Maschmeyer auch als freundlicher Förderer aussichtsreicher Startups, dessen Businessblick sich beim Bieten nach eigener Aussage nur verfinstert, "wenn ich konzentriert bin". Mit so sprödem Charme kann die Reizfigur im Quintett aber nicht den größten Makel schönpromoten: "Die Höhle der Löwen" ist Schleichwerbung von der ersten bis zur 120. Minute.
Schon vor der etwaigen Finanzspritze zum Gegenwert einer Firmenbeteiligung kriegen Produkte wie Pizzateig aus Leinsamen oder Reinigungsstifte für Trinkglasränder Dauerreklame für lau. Den saturierten Geldgebern mit Labels von Jochen Schweizers Extremsport-Reich über HSE24 (Williams) und e24 (Thelen) bis zum Familienbetrieb der Bremer FDP-Frontfrau Lencke Steiner verschaffen sie überdies Primetime-PR, die ein Fall für den Werberat ist. Und da wäre im Ambiente platzierter Produkte ohne Inhaltsbezug noch nicht mal von der CSU-affinen Zusammensetzung eines Quintetts die Rede, in dem Judith Williams als verbliebene Frau natürlich unter "Shopping-Queen" firmiert, die sich (ent)kleidet, als werde sie nach der Höhe von Absätzen und Rocksaum entlohnt.
Denen man aber eins kaum vorwerfen kann: schlecht zu entertainen. Unabhängig vom antiquierten Geschlechterbild und fragwürdigen Product Placements für tendenziell hedonistische Gadgets statt technischer Innovationen, ist "Die Höhle der Löwen" sehr unterhaltsam! Das zeigt einer der neuen "Pitches", wie Angebote hier businessdeutsch heißen. Der Zahntechniker Dinko Jurcevic etwa hat einen Stift entwickelt, dessen Klebstoff mit integrierter LED-Leuchte fix verhärtet wird. "Amazing", jubelt Frank Thelen im Schlabberhemd und bietet mit seiner aufgebrezelten Partnerin Williams ("Sie sind eine Perle") 300.000 Euro plus Marketingexpertise für 20 Prozent an Jurcevics Firma.
Zu gleichen Konditionen wirft Team Schweizer/Dümmel mit Kompetenz (im Handel) nebst Anglizismen (due diligence) um sich. Doch bevor Maschmeyers für die Show gegründete Finanzfirma den Zuschlag erhält, gibt es jenen "Deal auf Augenhöhe", von dem Unterhaltungschef Sturm schwärmt: erfinden, werben, feilschen, pitchen, alles vergleichsweise dezent vertont, alles menschlich nahbar. Viele Zuschauer dürften zwar Verhandlungen bevorzugen, in denen es "Hört auf!" vom Sessel dröhnt, weil das Angebot "ein totaler Witz" sei. Doch selbst Gescheiterten, meint Kai Sturm, "wird kein Dreck hinterhergeworfen".
Genau darin besteht die Relevanz für Kanal und Branche: Auch mit "Sing My Song" oder "Club der roten Bänder" hortet Vox zurzeit ja nicht nur Quoten, sondern Respekt. Und im Löwenkäfig gehe es abseits aller Renditeziele glaubhaft darum, zu zeigen, "wie viel Kreativität im Land der Dichter und Denker noch steckt". Die ersinnen zwar vorwiegend Suppen und sonstigen Superfood, allerdings in einer Atmosphäre, die von Trumps "You’re fired!" so weit entfernt sind wie Vox vom Reality-TV der Marke RTL. Daran können auch Schleichwerbung, Sexismus und eine Reizfigur namens Maschmeyer wenig ändern.