Klack. Die schwere Sicherheitstür fällt hinter den Filmfest-Besuchern ins Schloss. Freundlich-autoritäre Beamte sammeln Ausweise und Handys ein. Unter die Vorfreude auf eine brandneue TV-Serie mischt sich ein Hauch mulmiges Gefühl. Die nächsten drei Stunden wird keiner der Gäste die JVA Oldenburg verlassen können.

"Jetzt muss jeder mein Werk in voller Länge ertragen", scherzt Autor und Regisseur Thomas Stiller. Für ihn ist es nicht das erste Mal, dass er im Rahmen des Filmfests Oldenburg eine Premiere hinter Gefängnismauern feiert. Diesmal passt es besonders gut: Stillers RTL II-Serie "Gottlos – Warum Menschen töten" ergründet die Psyche von Mördern, ohne dabei zu moralisieren.



Bei diesem Screening der besonderen Art an einem Sonntagnachmittag Ende September sitzen normale Zuschauer und Inhaftierte gemeinsam vor der Leinwand – und man ertappt sich bei dem Gedanken daran, welcher Delikte sich die Männer ohne Besucherausweis wohl schuldig gemacht haben. Stiller reißt einen mit euphorischen Worten aus den Gedanken heraus: "Diese Serie konnte nur so entstehen, weil RTL II uns hat machen lassen – ohne ständige Einmischung von Redakteuren, wie man sie von anderen Sendern kennt."

Anderes Festival, andere Serie, gleiches Phänomen. "Club der roten Bänder", die erste eigenproduzierte Serie von Vox, feiert an einem kalten Oktoberabend Weltpremiere beim Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Gerda Müller und Jan Kromschröder, die beiden Produzenten, und Richard Huber, der Regisseur, loben die Zusammenarbeit mit dem Sender über den grünen Klee. "Bernd hat uns den Weg wunderbar geebnet, aber von vornherein gesagt, dass er sich nicht in Details einmischen möchte, von denen wir als Filmemacher mehr verstehen", sagt Huber. Mit "Bernd" ist Bernd Reichart gemeint, der Geschäftsführer des Kölner Privatsenders. Die Betreuung von "Club der roten Bänder" ist für ihn Chefsache, eine Fiction-Redaktion gibt es bei Vox ohnehin nicht.

Es sind mehr oder weniger diplomatische Worte, die Stiller und Marc Conrad, Initiator und Produzent von "Gottlos", sowie Huber und die Produzenten der Firma Bantry Bay auf den Festivalbühnen wählen. Die Botschaft dahinter könnte kaum klarer sein: Ohne die im deutschen Fernsehbetrieb oftmals überbordende redaktionelle Betreuung geht es mindestens ebenso gut – wenn nicht sogar deutlich besser. Zwischen den Zeilen ist Machern und Verantwortlichen eine spürbare Erleichterung über diesen neuen Weg anzumerken, nachdem sie sich jahrelang wohl oder übel dem Diktat des "Redakteursfernsehens" gebeugt haben.

Mikromanagement auf allen Ebenen

Längst ist "Redakteursfernsehen" in Branchenkreisen zum Kampfbegriff geworden. Bei öffentlich-rechtlichen wie privaten Großanstalten entstehen Serien und TV-Movies in aller Regel unter dominanter Aufsicht durch Redakteure, Programm-Manager und Programmbereichsleiter. Wo die meisten anderen entwickelten TV-Nationen Autoren oder Produzenten an die Spitze der Kreation stellen und mit der nötigen Gestaltungsmacht ausstatten, betreiben die Abgesandten deutscher Sender bevorzugt Mikromanagement auf allen Ebenen.

Nicht wenige von ihnen halten sich gar für die besseren Geschichtenerzähler oder Dramaturgen. Das geht seit Jahren einher mit der zunehmenden Unsitte, dass kaum noch ein Einzelner im Sendersystem Verantwortung übernehmen mag. Selbst Entscheidungen von kleinerer bis mittlerer Tragweite werden in der Folge aufs Kollektiv verlagert – ob dieses nun Gemeinschaftsredaktion, Programmkonferenz oder Programm-Board heißt.

Das verlangsamt nicht nur jede Entwicklung, sondern führt inhaltlich auch quasi zwanghaft ins Mittelmaß. Wenn jedes Treatment, jede Drehbuchfassung, jedes Nebenrollen-Casting von diversen Mitentscheidern abgenickt werden muss, steht am Ende der Kette nur selten eine Verfeinerung, weitaus häufiger eine Verwässerung der Ursprungsvision. Plakativ gesagt: Auf diesem Weg entsteht eher "In aller Freundschaft" als "Deutschland 83", eher "Frauenherzen" als "Gottlos". Produzenten, Autoren und Regisseure stöhnen darüber – meist hinter vorgehaltener Hand, weil ihr Geschäft von den vier großen Fiction-Auftraggebern ARD, ZDF, RTL und Sat.1 abhängt.

So ist es auch nachvollziehbar, dass der Markteintritt von VoD-Anbietern wie Netflix oder Amazon zur frühen, leicht übertriebenen Euphorie etlicher deutscher Produzenten führte. Weil sich herumgesprochen hat, dass die algorithmusgesteuerten Streaming-Dienste den Kreativen weitgehend freie Hand lassen, will nun jeder gern die erste deutsche Netflix- oder Amazon-Serie produzieren – auch wenn die noch auf sich warten lassen.

Viel schneller sind mit Vox und RTL II zwei neue, höchst willkommene Auftraggeber hinzugekommen, die entweder noch nie oder seit einer halben Ewigkeit nicht mehr in eigenproduzierte Fiction investiert hatten. So unterschiedlich die beiden Senderchefs Bernd Reichart und Andreas Bartl auch ticken mögen – beide haben ungefähr zum selben Zeitpunkt die historische Chance ergriffen, ins Seriengeschäft einzusteigen. Weil bei beiden Sendern der so genannten "zweiten Liga" die Budgets begrenzt und keine Inhouse-Redaktionen für Fiction vorhanden sind, mussten alternative Lösungen her.

Produzent Marc Conrad ist mit seiner Kölner Kreativschmiede ConradFilm gern zur Stelle, wenn es um besondere Stoffe und besondere Herausforderungen geht. Den Aufruf von RTL II-Boss Bartl und dessen Programmchef Tom Zwiessler nahm er daher wörtlich. "In der Zusammenarbeit mit Produzenten haben wir uns vorgenommen, deutlich schneller zu entscheiden und den Produzenten mehr gestalterische Freiheit zu überlassen als anderswo üblich", hatte Zwiessler im April im DWDL.de-Interview angekündigt. "Oft verbringen Produzenten Monate oder gar Jahre in Diskussionsschleifen auf verschiedenen Entscheidungsebenen und gehen mit unzähligen Überarbeitungen eines Stoffes in Vorleistung. Bei uns sollen die Partner innerhalb weniger Wochen auf Basis eines überzeugenden Konzepts einen verbindlichen Produktionsauftrag bekommen." Das mache für Produzenten einen erheblichen Unterschied, so Zwiessler.

"Ohne Strategiegefechte und Befindlichkeiten"

"Stimmt völlig", bestätigt Conrad. "Ich wüsste nicht, wie und wo wir 'Gottlos' ansonsten so schnell und so kompromisslos zustande gebracht hätten." Das Originalformat "The Godless" hatte er im niederländischen Fernsehen entdeckt. Die deutsche Fassung geht allerdings sowohl in der Erzählweise als auch in den von realen Fällen inspirierten Geschichten ihre ganz eigenen Wege. 

Auch bei "Club der roten Bänder" handelt es sich um eine Formatadaption. Das katalanische Original "Polseres Vermelles" nach dem Bestseller-Roman von Albert Espinosa ist inzwischen in 13 Ländern adaptiert worden. Man mag es als glückliche Fügung sehen, dass die Bantry-Bay-Produzenten Kromschröder und Müller schon länger mit einer deutschen Version geliebäugelt hatten, während der heutige Vox-Chef Reichart die Serie in seiner Zeit als Senderchef in Spanien vom katalanischen Regionalfernsehen ins landesweite Antena 3 geholt hatte. "Dieses außergewöhnliche Engagement eines Senderchefs höchstpersönlich bei so einer Serie macht es dann auch überhaupt erst möglich, schon im November auf Sendung zu gehen, wenn man im April erst das Okay bekommen hat", erklärte Kromschröder Anfang Oktober im DWDL.de-Interview. Man kriege es hin, wenn man sich nicht in "Strategiegefechte, Befindlichkeiten oder Zuständigkeiten" flüchte.

In beiden Fällen hat sich der Mut zu ungewohnten Wegen gelohnt. Beide Serien stünden auch größeren Sendern gut zu Gesicht. Die dort üblichen Prozesse hätten allerdings wohl nicht zu so kompromisslosen Ergebnissen geführt. Mit "Club der roten Bänder", geschrieben von Arne Nolting und Jan Martin Scharf, startet am 9. November (montags um 20.15 Uhr in Doppelfolgen bei Vox) eine Krankenhaus-Dramedy, deren Tonalität und Stimmung fürs deutsche TV außergewöhnlich sind. Im Mittelpunkt stehen konsequent die sechs jugendlichen Hauptrollen; schwere Schicksale gehen mit schierer Lebensfreude und lakonisch-humorvoller Erzählweise einher.

"Gottlos" wiederum ist eine äußerst spannende Alternative zum ewigen Krimi mit zentraler Ermittlerfigur. Stiller erzählt die psychologische Entwicklung, die einem Gewaltverbrechen vorausgeht. Der Zuschauer bleibt lange im Unklaren darüber, wer Täter und wer Opfer wird – da empfindet er längst Empathie mit den Figuren. Mehrere Festival-Zuschauer in Oldenburg zeigten sich nach der Vorführung der drei Folgen sichtlich irritiert über die moralisch offene Darstellung. Ursprünglich wollte RTL II die Serie noch vor Weihnachten ausstrahlen, was dann aber doch nicht als die passende Zeit für solch harten Tobak erschien. Alle Zuschauer, die nicht im Oldenburger Knast waren, müssen sich daher bis Anfang 2016 gedulden.