Die Akustik der Scheibenwischer ist penetrant. Lautstark quietschend ziehen sie sich immer wieder über die Frontscheibe und hinterlassen doch keinen freien Blick auf das trostlose Gewerbegebiet. Drei Stunden zuvor sind wir bei Sonnenschein in London aufgebrochen - zwei Pressesprecherinnen von BBC Worldwide und ich. Zunächst mit dem Zug nach Bristol Parkway, einem pragmatischen Bahnhof weit außerhalb der Stadt an der Fernstrecke zwischen London und der walisischen Haupstadt Cardiff. Dort wartete der kaputte Scheibenwischer auf uns für die letzten Kilometer - einmal die Autobahnbrücke über den Severn rüber nach Wales. Erste Ausfahrt: Chepstow. Wer hätte gedacht, dass in einem Gewerbegebiet außerhalb dieser Kleinstadt im Südosten von Wales das mythische Reich liegt, das sich der griechische Philosoph Platon einst erdachte: „Atlantis“.
Wir kurven mit unserem Fahrer immer noch durch das weitgehend verlassen wirkende Gewerbegebiet und suchen eine große Halle, doch davon stehen hier einige. In einer davon wird die zu diesem Zeitpunkt größte Serien-Hoffnung der BBC produziert. Es ist Sommer 2014 und die Dreharbeiten zur zweiten Staffel der Fantasy-Serie laufen. Sie ist für die BBC selbst am Samstagabend der Nachfolger für die eingestellte Serie „Merlin“ und international groß im Verkauf. In Deutschland hat mit Super RTL der Familiensender zugeschlagen, der zuvor auch schon „Merlin“ eine deutsche Fernsehheimat gegeben hatte. Ich habe die Reise nach Wales angetreten, weil mich das Interesse der öffentlich-rechtlichen BBC an Fantasy-Serien fasziniert - eine Programmfarbe in der Auftragsproduktion, die man sich bei ARD und ZDF nur schwer vorstellen kann.
Auf Verdacht umfahren wir einige Lagerhallen, deren umgebene Parkplätze einst mal von Schranken versperrt wurden. Wir umfahren auf Verdacht eine sehr lange Lagerhalle und entdecken plötzlich ein offenes Tor. Drinnen sieht man nicht näher identifizierbare Kulissen, aber vor den Toren eine mobile Schreinerei. Wir glauben "Atlantis" entdeckt zu haben und liegen richtig. Die Damen der BBC sind froh. Unser Fahrer umkurvt noch schnell das tatsächlich mehrere hundert Meter lange Monstrum von Halle. Am Kopfende befinden sich die Produktionsbüros, hier steigen wir aus. Willkommen in der ehemals größten Kühlhalle der britischen Supermarkt-Kette Tesco - oder wie es Produzent Urban Myth Films und die BBC eben nennen: Atlantis. Einige Außendrehs fanden in Marokko statt, doch der Großteil der Serie entsteht hier. Fördermittel der Landesregierung aus Cardiff haben den Ausschlag gegeben, in Wales zu produzieren.
„Atlantis“ erzählt die Geschichte von Jason (gespielt von Jack Donelly, Foto), einem jungen Mann unserer Zeit, der auf der Suche nach seinem vor vielen Jahren bei einem Tauchgang verschollenen Vater, plötzlich unter Wasser selbst in Schwierigkeiten kommt, das Bewusstsein verliert und in Atlantis aufwacht. Die Serie, die Super RTL jetzt ins Programm nimmt, unterscheidet sich auf erfrischende vom Quasi-Vorgänger "Merlin": Sie nimmt sich nicht ernst. Sie nimmt sich herrliche Freiheiten und interpretiert allerlei Mythen völlig neu. So leben in jenem Atlantis auch die beiden Freunde Herkules und Pythagoras. Sie leben in einer Wohngemeinschaft und nehmen den verwirrten Neuankömmling, der stellvertretend für den Zuschauer irritiert ist von der Fantasie-Welt in der er da gelandet ist, in ihren Reihen auf.
Jetzt mal nicht so ernst: Sehenswerte erste Staffel
Als Pythagoras sich Jason vorstellt, kontert dieser: „Bist Du nicht der Typ mit den Dreiecken?“ „Woher weißt Du das?“, ist Pythagoras’ Antwort. Dass der daneben stehende Herkules kein Adonis sondern ein übergewichtigerer Mann im fortgeschrittenen Alter mit einer Schwäche für Alkohol ist, bricht auch wieder mit Bildern und Vorstellungen, die das Publikum hat. „Wenn die Autoren sich exakt an die Mythologie halten würden, dann könnte das Publikum wissen, wie sich manche Geschichten entwickeln. Weil die Serie mit Mythen spielt und sie nicht ganz so ernst interpretiert, kommt es zu Überraschungen, die immer wieder für Spannung sorgen“, erzählt Hauptdarsteller Jake Donnelly während einer Drehpause. „Atlantis“ macht das zur idealen Fantasy-Serie für Menschen, die sich mit dem Genre sonst schwer tun: Nicht ganz ernst gemeinter Action-Spaß mit Wendungen und diesem gewissen Meta-Humor, wenn Jason Pythagoras ermutigt, seine Dreiecks-Gedanken fortzuführen: „Glaub mir, Du wirst einmal sehr berühmt damit.“
In Atlantis angekommen, beschleicht den zukünftigen Helden Jason das Gefühl, auch seinen Vater könnte es hierher verschlagen haben. Mysteriöse Orakel deuten ihm so etwas an. Doch bevor er sich darum kümmern kann, werden Herkules, Pythagoras und er in die ersten Abenteuer verwickelt. Ein ungleiches Trio - „aber keins mit abonnierten Rollen“, verteidigt Hauptdarsteller Jack Donnelly. Wie so oft bei solchen Set-Visits lausche ich, wie er seine Rolle analysiert. Es fallen ein paar Plattitüden. Donnelly hat mich wieder als er laut lacht und sagt: „Aber hey, es geht um Action und viel Spaß“. Erfrischend ehrliche Erkenntnis. Genau das liefert die erste Staffel von „Atlantis“. Die aufgebauten Sets in der ehemaligen Kühlhalle gehören zu den beeindruckendsten, die ich gesehen habe. Da konnte bis dato kein Set in Los Angeles oder die „Homeland“-Sets in Kapstadt mithalten. Für Staffel 2 wurden neue Straßenzüge gebaut, um Atlantis noch abwechslungsreicher erscheinen zu lassen.
„Und wenn Sie mal schauen wollen“, sagt eine Set-Designerin und öffnet eine kleine Tür in einer großen Trennwand. Dahinter: Die dunkle Tiefe der von außen schon begutachteten, riesigen Halle. „Zwei Drittel dieser Halle haben wir noch gar nicht genutzt.“ Dass es dazu nicht mehr kommen wird, weiß zu dem Zeitpunkt niemand. Im Gegenteil: Im Gespräch mit Jack Donnelly freut sich dieser auf die deutlichen Veränderungen in Staffel 2. Die Serie wird horizontaler erzählt, düsterer und widmet sich jetzt auch dem Fluch von Atlantis selbst. Seinen Co-Star Mark Addy (Herkules) freut das. „Die Serie wird erwachsener“, sagt er zwischen zwei Szenen. Er ist von „Game of Thrones“, wo er King Robert Baratheon spielte, schließlich mehr Tiefgang gewöhnt. Epischer soll die Serie werden, bekräftigen auch die beiden Kolleginnen von BBC Worldwide.
Auf den guten Quoten der ersten Staffel will man aufbauen und in all den Gesprächen im vergangenen Sommer klingt die Hoffnung mit, eine epische Saga etablieren zu können, die weiterhin frei jongliert mit überlieferten Sagen und Mythen und so eine gewisse literarisch-historische Erdung hat. Großen Spaß an dieser Produktion haben auch die Kostümbildner - die ebenfalls vor Ort sind. Abgesehen von der manchmal schwierigen Materialversorgung in dieser abgeschiedenen Gegend, sei die kreative Freiheit eine wahre Freude, wissen die Kostümbildnerinnen zu berichten. „Atlantis“ kreiert eben eine Fantasie-Welt, die nicht an historische Genauigkeiten gebunden ist sondern sich sowohl beim Set- wie Kostüm-Design aus vielerlei Einflüssen bedienen kann. Aber genug zur Optik. Neben dem schon erwähnten Humor, ist es die Action, die die Serie auszeichnet. Wir reden beispielsweise von altmodischen Schwertkämpfen. Da bekommt der Hauptdarsteller Lust zu erzählen.
Bis zum letzten Hemd gekämpft - und doch verloren
„Ich habe fünf Wochen intensiv mit unserem Stunt-Koordinator Dave Forman gearbeitet“, so Donnelly. Er kommt regelrecht ins Schwärmen, erzählt heitere Anekdoten vom Stunt-Training. Routinierte Anekdoten, die ich bei der Vorbereitung des Set-Besuchs schon in anderen Interviews gelesen habe. Die Vorstellung, dass er sich später beim Dreh der ersten Staffel trotzdem mit einem Messer verletzte und an einem späten Freitagabend noch im Lendenschürzen-Kostüm der Serie in eine nahegelegene Notaufnahme gebracht wurde, lässt trotzdem noch einmal schmunzeln als er es erzählt. Davon abgesehen fassen wir es kurz: Professionelles Schwertkampf-Training sei der Traum eines jeden Jungen und für ihn wurde er wahr. Dazu kamen Training im Pferdereiten und sehr viele Stunden im Fitness-Studio. Im alten Atlantis ist die Kleidung mitunter spärlich und neben einem beleibten Herkules muss wenigstens seine Figur eine gute Figur machen.
Für eine britische Schwulen-Zeitschrift zog sich Donnelly zur Promotion der Serie sogar aus. Eine Strategie, die schon bei „Merlin“-Darstellern helfen sollte. Doch dort wie auch bei „Atlantis“ war das Schicksal der Serie kurz darauf besiegelt. Die durchtrainierten Körpern waren wohl ein Indiz, das man auch die letzten Geschütze auffahren musste, die man noch zu bieten hatte. Die BBC hat inzwischen angekündigt: Die restlichen Folgen der zweiten Staffel, die in Großbritannien im Frühjahr auf Sendung gehen werden, sind die letzten der Serie. Die Neuausrichtung nach der so gelungenen ersten Staffel ist fehlgeschlagen. Die aufwändigen Sets von „Atlantis“ in der ehemaligen Kühlhalle von Tesco im Südosten von Wales können abgebaut werden. Hauptdarsteller Donnelly hatte im vergangenen Sommer bei meinem Besuch noch ganz begeistert von der düsteren zweiten Staffel gesprochen. So düster hatte sie er sich vermutlich nicht gewünscht.