Hand aufs Herz: Wie denken Sie über die Oscar-Chancen?
Es fing alles so an, dass mein englisches Team dachte: „Let’s try it.“ Jetzt will ich weit kommen und mit einer Nominierung wäre ich schon der glücklichste Mensch der Welt. Ich lerne immens dazu, das ist eine riesige Lernkurve. Den Zirkus drumherum kann man auch nur sehr selten mitmachen. Es macht einen verrückt, in diesen kompetitiven Denkstrukturen gefangen zu sein. Mir hat man von Anfang an sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass es selten nur um Qualität geht. Es geht sehr viel ums Marketing, um das, was hier als „shmooze“ zelebriert wird.
Wir haben einen so starken Gegner mit „White Helmets“ [einer ebenfalls in Syrien gedrehten Doku über eine Gruppe humanitärer Helfer für Opfer von Bombenangriffen in Aleppo]. Die waren für einen Nobelpreis im Rennen, haben eine klassische Hero-Geschichte und mit Orlando von Einsiedel einen Filmemacher, der mit „Virunga“ schon einmal für einen Oscar nominiert war und der Leonardo DiCaprio im Freundeskreis hat. Und der die vor allem mit Netflix eine Firma mit unendlich viel Geld dahinter hat. „Amy“, der Sieger in der großen Dokumentar-Kategorie im letzten Jahr, hat 780.000 Dollar allein in die Oscar-Kampagne gesteckt. Wenn man dieses Geld nicht hat, dann wird es sehr schwierig. Insofern mache ich mir keine Illusionen.
Was wünschen Sie sich also für deutsche Dokumentarfilmer, was ist das größte Problem: Fehlendes Geld? Fehlende Sendeplätze?
Wir sind in einer ganz spannenden Zeit. Alle sagen, Fernsehen sei tot, aber ich sehe eine ganz andere Dynamik. Rund um den Dokumentarfilm ist eine komplette Hysterie entfacht worden. Vice hat vor ein paar Jahren damit angefangen, aber jetzt gibt es viele andere. Player wie Netflix, die mit fünf Produktionen auf den Shortlisten im Bereich Dokumentarfilme sind, haben es vorgemacht und eine immense Energie in die Branche gesprengt. Hier in den USA sehe ich viel frische Energie. Zum Beispiel finde ich „Amanda Knox“ eine unglaublich spannende Art, eine Geschichte aufzubereiten. „Making of a Murderer“, die „O.J. Simpson“-Doku, all das ist Wahnsinn, wie hier mit Erzählstrukturen wie im Spielfilm Wirklichkeit erzählt wird.
Ich glaube, Deutschland hat das noch nicht erkannt. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sind in vielerlei Hinsicht immer noch verkrustet in ihrer Art der Erzählweise, es ist manchmal etwas schablonenhaft. Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass Deutschland nicht den Wettbewerb nach außen mitmacht, aber eben auch daran, dass man sich selbst genügt, ohne über den Tellerrand hinauszublicken. Wir haben einen klaren nationalen Wettbewerb und man schaut, was die anderen Sender in Deutschland machen.
Insofern wäre mein Wunsch, mutiger zu sein. Budgets zu haben für quotenunabhängige Formate, Sendeplätze, auf denen Neues probiert wird. Wenn Formate Millionen Menschen erreichen - über Netflix oder auch als Podcast wie zum Beispiel „Serial“ -, dann kann das so falsch nicht sein und muss in Deutschland auch funktionieren. Ich verstehe nicht, warum das nicht erkannt wird.
Wie wichtig sind Preise und Auszeichnungen für einen Dokumentarfilmer, damit die eigene Arbeit überhaupt erst möglich wird?
Ich komme aus dem Fotojournalismus und habe dort 15 Jahre international gearbeitet, ohne jemals etwas zu gewinnen - ich habe einfach nie etwas eingereicht. Beim Fernsehen, gerade im englischen Fernsehen, ging es dann plötzlich nur um Preise. Ich habe Preise gewonnen, von denen ich nie etwas gehört hatte, einfach weil es Teams bei den Sendern gibt, die sich nur darum kümmern. Das ist deren Währung und man ist auf internationaler Ebene im Wettbewerb. Klar hat mir das viele Türen geöffnet, finanziell aber überhaupt keine. Ich habe den Film über drei Jahre selbst vorfinanziert, bin viele Risiken eingegangen.
Es gibt da auch eine scheinheilige Art mit Freelancern umzugehen, wenn es darum geht, gefährliche Themen wie Syrien anzufassen. Da sagen sie dir: „Wir können Dich da nicht hinschicken.“ Aber wenn du es dann machst, dann sind sie sofort dabei. Es passiert dann, dass Fotografen umgekommen sind und keiner Verantwortung übernehmen will - aber wenn es um Preise geht, dann wollen sie es sehr gerne für sich in Anspruch nehmen. Gerade im Fotobereich ist das gefährlich geworden, weil sie damit rechnen konnten, dass sehr viele junge, aufstrebende Fotografen über Syrien in die nächste Ebene kommen wollten und mutig genug waren, das auf eigenes Risiko zu machen.
Sprechen wir ein wenig über die Rolle von Journalisten in Konfliktgebieten. Es gibt den immer wieder zitierten Satz, dass sich ein guter Journalist auch mit einer „guten Sache“ nicht gemein mache. Sie haben darauf in Ihrer Dankesrede für den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis Bezug genommen.
Ja, als ich den Preis bekommen habe, dachte ich, dass ich das ansprechen muss. Ich kann verstehen, woher der Spruch kommt und warum er es sagt, aber ich glaube, Journalismus mit Haltung ist gerade in unserer Zeit immer mehr notwendig. Ich glaube, Friedrichs kam damals aus einem anderen Kontext. Die Medienlandschaft hat sich aber verkompliziert. Was ist wahr, wenn alles fake sein kann?
Das trifft auch auf meine Syrien-Berichterstattung zu. Ich konnte niemals die Objektivität eines Journalisten erfüllen, weil ich in meinem Handeln limitiert war. Ich konnte nicht beide Seiten zeigen, es wäre zu gefährlich geworden. Ich wusste aber auch: Der Film wird erst dann stark, wenn ich den emotionalen Zugang zu einer Familie bekomme. Um diesen Zugang zu bekommen, muss ich aber sehr viel von mir geben. Ich habe bei der Familie geschlafen, in Syrien sowieso, in Goslar aber auch. Ich wollte Teil der Familie werden. Das fällt mir nicht schwer, aber es steht dem entgegen, was Friedrichs gesagt hat. Ich habe lange Zeit gedacht, ich muss mich dafür rechtfertigen, aber ich stehe mittlerweile sehr stark dazu.
Die Mutter Hala und ihre Kinder sind sehr starke und sehr offene Protagonisten. Wie sind sie auf die gestoßen?
Die erste Version habe ich im Auftrag für Channel 4 gemacht. Der Auftrag war, einen Film über Syrien aus Sicht der Kinder zu drehen. Ich brauchte einen zweiten Erzählstrang und traf 2012 die Familie von Abu Ali und war sofort begeistert. Ich musste dann aber den Dreh mit ihnen nach vier Tagen abbrechen, weil es zu gefährlich wurde. Dann wurde es doch ein Film und er hat viele Preise gewonnen. Dadurch wusste ich, dass diese Familie erzählerisch stark ist und ich an ihr dranbleiben will. Über zwei Jahre lang habe ich 2014 und 2015 dann Reisen komplett selbst finanziert. Als ich dann den ersten Rohschnitt hatte, konnte zu den Sendern gehen und sagen: „Es gibt den Film schon. Ihr müsst nur noch lizensieren.“ Deswegen gibt es die drei Partner PBS, ZDF und Channel 4.
Der Film erzählt von dieser syrischen Familie aus Aleppo und ihrer Flucht nach Deutschland. Es sind Szenen aus über drei Jahren zu sehen, von 2012 an. Was ist darüber hinaus das Besondere an der Doku?
Der Film ist der einzige, der es schafft, die gesamte Geschichte zu erzählen. Es gab viele Geschichten über Flüchtlinge, aber niemand hat sie vorher in Syrien kennengelernt. Wir sehen die Familie in Syrien und gehen dann ein Jahr in Deutschland mit, erzählen einen Bogen über drei Jahre - und wir haben auch noch eine weibliche Hauptfigur. Mir wurde vor allem auch im sich verändernden Klima in Deutschland klar, dass der Film notwendig ist. Ich wollte zeigen, dass es viele Leute gibt, die freiwillig niemals gekommen wären. Deswegen haben wir auch den Namen „Watani“ gewählt. Er hat im Arabischen eine klare politische Konnotation und beschreibt die Sehnsucht nach dem verloren Heimatland.
Der Vater der Familie ist nach einigen wenigen ersten Szenen nicht mehr zu sehen, weil er von IS entführt wird. Wie hat sich das auf den Film ausgewirkt?
Ich hätte mir natürlich immens gewünscht, dass er weiter da ist. Weil er unglaublich charismatisch und stark ist. Er war der Meinung, dass sein Regime so kriminell ist, dass er sich dem widersetzen muss. Er trifft die Entscheidung, nicht zu fliehen, sondern sagt: „Ich stelle mich dem entgegen und bin sogar bereit, meine eigenen Kinder zu opfern.“ Von vielen wurde das als egoistisch kritisiert, interessanterweise oft von Deutschen, die ihrer Großvätergeneration vorwerfen, nichts gegen Nazi-Deutschland getan zu haben. Das Tragische des Films ist aber dann, dass die Familie von den Monstern dieser Revolution gefressen wird.
Gab es denn politische Reaktionen auf den Film in Deutschland?
Nein und das war interessanterweise überall sonst anders. Wir haben ihn im englischen Parlament gezeigt, der Sender ist damit sehr offensiv, selbstbewusst und stolz aufgetreten. Wir haben ihn vor 2.500 Menschen vor der UN hier in New York gezeigt. Auf YouTube gibt es die Dankesrede der Mutter aus unserem Film, Hala. Da haben wir es aber auch wieder - anstatt zu sagen: „Wir nehmen das, zeigen es im Bundestag und können damit was erreichen“, hat es der Sender in keiner Weise erkannt, was man daraus machen kann.
Fast fünf Jahre sind seit den ersten Szenen in „Watani“ vergangen. Wie sehr ist die aktuelle Situation in Aleppo noch Teil Ihres Lebens?
Ich habe sehr stark versucht, emotionalen Abstand zu gewinnen. Ich hatte vier Jahre Syrien gemacht und es war definitiv eine der herausforderndsten und schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens. Ich habe noch nie so viele Menschen verloren, noch nie so viele Menschen vor meinen Augen sterben sehen. Der Film ist meinem Fixer gewidmet, der vor einem Jahr ermordet wurde. Von meinen 26 Reisen ins Land war er auf mindestens 20 mein Begleiter und Helfer, mein Schutzschild. Jetzt ist er tot und das lässt mich logischerweise natürlich nicht kalt. Wenn man dann merkt, dass es zu viel ist, dann muss man auch klare Grenzen für sich selbst setzen. Ich gehe im Moment nicht mehr ins Land und versuche auch, Nachrichten sehr dosiert zu konsumieren, weil ich den Abstand brauche.
In Deutschland wird die Doku am 4. März auf dem Pay-TV-Sender History zu sehen sein. Ein Webspecial hat auch das ZDF. „Das Schicksal der Kinder von Aleppo - Neue Heimat Deutschland“ ist auch im Rennen um den Deutschen Fernsehpreis 2017, der am Donnerstag in Düsseldorf verliehen wird.