Diese Entwicklung muss Sie doch unfassbar traurig machen.
Ja, sicher. Das Medium Radio begeht gerade Selbstmord. Einen sehr schleichenden zwar, aber es begeht Selbstmord. Wir Radioleute müssen viel schneller reagieren auf die neuen Anforderungen und Konsumgewohnheiten, sind viel zu träge in dem, was wir machen. Neue Konkurrenz wie Spotify und Last.fm nehmen wir viel zu wenig wahr. Wir müssten jetzt endlich anfangen, intelligente Inhalte zu liefern, um ein Einschaltradio zu machen. Die Playlists, die hier Land auf, Land ab laufen, kann Ihnen Spotify zu jeder Zeit bieten, nicht aber den Mehrwert, der entsteht, wenn wir konsequent auf gute Inhalte setzen würden.
Aber wieso tut sich das Radio so schwer, darauf zu reagieren?
Die Privatsender, die mit ihrem Weg sehr erfolgreich sind, haben mein volles Verständnis. Wenn die Eigner von FFH mit Ihrer Art von Radio zufrieden sind, weil es Geld einbringt, dann soll mir das recht sein. Wer reagieren müsste, sind die Öffentlich-Rechtlichen, die einen ganz anderen Auftrag haben. Die müssten sich wieder ihrer Tugenden erinnern und ihre Rotation von 1.000 auf mindestens 100.000 Titel erhöhen. Wir haben doch im Hessischen Rundfunk zusammen mit dem deutschen Rundfunk-Archiv Millionen toller Musiktitel. Man kann ja den Computer erst mal die Sendung zusammenstellen lassen, um eine Basissendung zu kreieren, aber dann müssen eben kundige Musikleute eingreifen und damit beginnen, wieder emotionales Radio zu machen. Sie müssen Kino im Kopf freisetzen, intelligente Betrachtungen des Zeitgeschehens liefern und die Hörer ans Radio regelrecht binden. Ich erinnere mich an den genialen Klaus Jürgen Haller, dessentwegen ich einmal eine Stunde auf dem Parkplatz stehen geblieben bin, weil er beim WDR ein wunderbares "Mittagsmagazin" machte und sich den damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt so sehr zur Brust nahm, dass die Lichter ausgegangen sind. Das war Radio vom allerfeinsten, und das haben wir leider schleichend aufgegeben...
… und gleichzeitig werden Leute von den Privaten zu den Öffentlich-Rechtlichen geholt, bis die überraschende Erkenntnis dämmert, dass die Hörer das alles gar nicht haben wollen.
Da wird es dann besonders lustig, wenn man meint, die Privaten kopieren zu müssen, um auf einen Schlag zahlreiche Hörer zu gewinnen. Das ist natürlich der völlig falsche Weg für die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Ein anderes Phänomen ist die Abschaffung von Markennamen. Den Namen "Pop & Weck" haben wir Ende der 70er Jahre für die Frühsendung von hr3 erfunden – das sagen die Leute heute noch. Solche Marken zu erfinden, ist selbstverständlich schwer. Ich weiß das. Die "Stereobox auf Wunsch" ist nicht gerade der ideale Sendetitel, aber auch den haben wir auf Sendung gebracht. (lacht) Aber wenn man eine etablierte Marke aufgibt, dann suggeriert man den Hörern doch geradezu, den ganzen Tag bloß vor sich hinzublubbern.
"Egal war ich nur wenigen Leuten. Gott sei Dank."
Werner Reinke
Ihre Sendungen hatten dagegen stets echte Namen. Was aber hat Sie über all die Jahre hinweg noch erfolgreich gemacht?
Da gibt es nur ein Wort: Authentizität. Ich bin authentisch und erzähle, was meiner Überzeugung entspricht. Ich tue dies mit meinen Mitteln, rede privat auch nicht anders als im Radio – vielleicht etwas undeutlicher. Wenn in der "Hitparade International" ein verrückter Titel kam, dann bin ich mitten in einer Ansage aufgesprungen, habe die Tür aufgerissen und etwas in den Flur geschrien, die Tür wieder zugeknallt und mich hingesetzt. Immer in der Annahme, dass das in diesem Moment vielleicht unterhaltsam ist. Man stellt dann hinterher fest, dass es vielleicht doch nicht so toll war. In jedem Fall aber habe ich etwas gemacht, über das die Leute später erzählen konnten. Ich habe ihnen also eine authentische Figur geboten, die man entweder hassen oder lieben konnte. Egal war ich nur wenigen Leuten. Gott sei Dank. (lacht)
Das ist natürlich heute nicht mehr gewollt.
Nein, nein. "Um Gottes Willen. Kommen Sie mir bloß nicht mit sowas. Sonst kommt direkt der Programmdirektor!" (lacht)
Ich habe Sie immer für die vielen großen Stars beneidet, die zu Ihnen ins Studio kamen und sogar Sendungen moderiert haben. Wie kam es dazu?
Begonnen hat alles mit Wolfgang Niedecken. Er kam in der absoluten Hoch-Zeit von BAP zusammen mit seinem Promoter zu mir in meinen Heimatort, um mit mir ein Gespräch über seine Musik zu führen. Da sagte ich zu ihm, bevor du zum 300. Mal die gleichen Fragen hörst, übernimm doch einfach selbst die Moderation. Und das hat er dann gemacht. Er suchte sich spannende Platten aus meiner Sammlung heraus und so produzierten wir dann in meinem Tonstudio im Keller eine Sendung für den "ARD-Nachtrock" vor, die ausgesprochen gut angekommen ist. Wir hatten so viel Spaß, dass Wolfgang sogar zu spät zu seinem Konzert in Offenbach gekommen ist. Ich bin bis heute bei diesem Konzept geblieben, weil der Gast durch die von ihm zusammengestellte Musik von sich aus etwas erzählen kann, das ihm wichtig ist. Da herrscht dann gleich eine ganz andere Atmosphäre im Studio. Das ist eine wunderbar entspannte Sendeform, die viele andere Kollegen mittlerweile ja auch für sich entdeckt haben.
Aber es sollte nicht bei Wolfgang Niedecken bleiben.
In besonderer Erinnerung ist mir Paul Anka geblieben, ein Künstler meiner Jugend. Das ist der Mann, der den Text von "My Way" für Frank Sinatra geschrieben hat. Dessen Schallplattenhülle hing schon in Delmenhorst über dem Bett des Schülers Werner Reinke – und dass dieser Mann in meiner eigenen Sendung erzählt, wie es zu diesem wunderbaren Titel kam und wie Sinatra darauf reagiert hat, war eine der spannendsten Geschichten, die vermutlich im Radio je liefen.
Und danach haben Sie nicht gesagt: Was soll jetzt noch kommen?
(lacht laut) Der Traum eines jeden, mit so einem Hammer seine Karriere zu beenden! Aber so geht ja das Leben leider nicht. Wahrscheinlich wird meine letzte Sendung stattdessen eine ganz erbärmliche sein. (lacht) Aber ich bin dankbar für all die Erfahrungen, die ich machen durfte. Zu meinen spannendsten Geschichten gehörte gewiss die Herausforderung, 85 Minuten live "Der Lotse" von Frederick Forsyth am Weihnachtsabend vorzulesen. Die Leute sind mir tatsächlich gefolgt, was letztlich unterstreicht, dass man den Menschen nicht nur zwei Minuten Wort und derartigen kategorischen Blödsinn vorsetzen muss. Es kann alles möglich sein. Und wenn die Geschichte es hergibt, dann darf sie auch mal über 85 Minuten gehen.
Sie haben, und das wurde in diesem Gespräch sehr deutlich, eine starke Verbindung zu hr3. Inwiefern schmerzte es, als Sie mit Ihrer Sendung vor einigen Jahren zu hr1 wechselten?
Das war ein Einschnitt, und das war nicht mein Wunsch.
Keinen Gedanken ans Aufhören verschwendet?
Nein, der Wechsel selbst verlief dann auch sehr angenehm. Gleich in meiner ersten Sendung in hr1 hatte ich Tom Jones als Studiogast. Das hat den Kollegen sehr gut gefallen, weil es ganz wunderbar ins Programm passt. Ich war also gewiss kein Fremdkörper, auch wenn der Abschiedsschmerz von hr3 auf jeden Fall vorhanden war. Das ist schließlich die Welle, die ich 1972 mitgegründet habe und die mir immer meine Heimat gewesen ist.
Was hört Werner Reinke heute, wenn er das Radio anmacht?
Ich höre sehr selektiv. Wenn ich Radio höre, dann im Auto. Zuhause höre ich gar kein Radio mehr – aus einem einfachen Grund: Ich will mir nicht den Spaß an der Musik verderben, indem ich sie pausenlos höre. Ich esse sehr gerne Schwarzwälder Kirschtorte, aber wenn Sie mir jeden Tag zwei Mal Schwarzwälder Kirschtorte vorsetzen, dann kann ich absehen, wann ich sie irgendwann nicht mehr mag. Deswegen höre ich Radio entweder zur Kontrolle aus beruflichen Gründen – oder im Funkhaus.
Herr Reinke, vielen Dank für das Gespräch.