Frau Berger, lassen Sie uns über Haltung reden. Die haben Sie immer bewiesen. Wie sehr ärgert Sie Ungerechtigkeit?

Im alltäglichen Leben, wenn Kinder geschlagen werden oder Tiere misshandelt werden, kann ich mich nicht zurückhalten. Und warum auch? Es sind die großen Ungerechtigkeiten unserer Zeit, die mich bedrücken, weil ich mich so hilflos fühle.

Was meinen Sie damit?

Als 22-jähriges Mädchen war ich 1963 mit einer amerikanischen Produktion in Pakistan mit „Kali Yug – Göttin der Rache“. Ich war auf dieses Land vollkommen unvorbereitet. Jeden Tag war unser Team umringt von schwer behinderten Kindern, flehenden Müttern, amputierten Bettlern. Die Armut war grenzenlos und die Menschenverachtung der Regierung ebenfalls. Ich war zutiefst entsetzt. In meinem Koffer hatte ich einen kleinen Brief meines Vaters gefunden, den er mir heimlich mitgegeben hatte: „Ich beneide dich, dass du in das Land von 1001 Nacht reisen darfst.“ Als ich nach zwei Monaten wieder nach Hause gekommen war, sagte ich, nach diesen Erfahrungen, die ich dort gemacht hatte: „Ihr werdet sehen. Diese Situation in Pakistan und in Afghanistan, die kippt. All diese Kriege, diese Armut, und Unterdrückung, das lässt sich nicht in diesen Ländern lösen. Diese Menschen werden zu uns kommen.“ Heute wunder ich mich über meine Weitsicht und bin gleichzeitig beschämt, dass ich Recht behielt. Die Ungerechtigkeit in den unterdrückten Ländern hat viel Hass geboren, der jetzt ausbricht. Stammesdenken und Auslegung ihrer Religion macht diese Leute immer noch kaputt.



Glauben Sie, dass Sie als Künstlerin mit Filmen wie Ihrer ZDF-Reihe „Unter Verdacht“ Veränderungen bewirken können, oder ihre Arbeit die Haltung von Menschen beeinflusst?

Nein. Es werden im besten Fall Gedanken angestoßen. Vielleicht werden sich Zuschauer noch weiter informieren – vielleicht gibt es auch bald eine Justizreform, die die oberste rechtliche Gewalt einmal im Jahr gesundheitlich untersuchen lässt. Mehr nicht. Aber ein Impuls, ein Gedankenanstoß ist ja schon viel. Diskussion, die unsere Geschichte auslöst, ist ja schon viel. Ich selbst hab früher vom Theater viele Anstöße bekommen. In der Schule war ich wenig interessiert an Geschichte, an Zeitgeschehen, an Politik. Ich saß meistens in der letzten Reihe und las unter der Schulbank lieber die „Filmrevue“. Erst seit dem 16. Lebensjahr hat mir das Theater Leben gelehrt. Diese Art von Theater gibt es aber kaum noch. Brecht schrieb wunderbare Texte, um Dinge von zwei Seiten zu sehen.

Ihre Kriminalrätin Prohacek wirkt dagegen aber in Ihrer Haltung eher eindimensional…

Die Prohacek steht für eine Seite. Sie ist hart, streng, nicht liebenswürdig, aber gerecht. Der Antagonist ist Dr. Reiter. Ich denke, in vielen Menschen sind beide Typen angelegt. Wie in der Flüchtlingskrise: Wir empfinden tiefes Mitleid und natürlich müssen wir helfen. Andererseits denken wir, „wohin führt das alles? Wie ist das zu bewältigen? Und nicht nur von uns selbst, sondern von den Flüchtlingen?“ Ich denke wir alle konnten die tiefgreifenden Folgen im letzten Herbst nicht absehen. Auch nicht Angela Merkel.

"Den Versuch uns glauben lassen zu wollen, die Flüchtlinge würden einmal unsere Rente bezahlen, halte ich für unsinnig."
Senta Berger

Teilen sie die Ängste vieler Menschen gegenüber den Flüchtlingen?

Zunächst war es richtig, sie mit offenen Armen zu empfangen. Deutschland gibt in Europa da ein gutes Bild ab. Den Versuch, uns glauben lassen zu wollen, die Flüchtlinge würden einmal unsere Rente bezahlen, halte ich für unsinnig. Als sollten wir jetzt in die Asylsuchenden investieren, um später etwas in die Pensionskasse eingezahlt zu bekommen. Unsere Hilfe soll doch kein Geschäft sein. Ansonsten merk ich an mir selbst, wie viele unterdrückte Vorurteile ich in mir trage, wenn mir eine Gruppe schwarzhäutiger junger Männer entgegen kommt.

Warum denn das?

Es gibt keinen rationalen Grund dafür. Nur so ein schwammiges Gefühl der Vorsicht, des Vorurteils. Eigentlich möchte ich vor so einer Gruppe junger Männer stehenbleiben und fragen: „Wie gefällt es Ihnen hier?“ Das wäre eigentlich meine Art. Aber ich tue es nicht. Vielleicht, weil ich weiss, dass viele Moslems Frauen nicht die Hand geben wollen..? Weil ich sonst noch einiges weiß, über die Stellung der Frauen im Islam? Meine Mutter hat mir beigebracht, dass jeder Mensch jemand ist. Das darf ich nicht vergessen.

„Unter Verdacht“ wird seit 15 Jahren jährlich verlängert. Wie hat sich die Art zu arbeiten in all den Jahren verändert?

Es gibt heute weniger Hierarchien und nicht mehr diese egomanen Attitüden von Regisseuren und Kameramännern. Durch die Digitalisierung und die leichten Kameras, die uns die Entwicklungen der Rüstungsindustrie beschert haben, nutzen wir die Möglichkeit, schneller an mehr Locations drehen zu können. Von 30 Tagen beim Fernsehdreh bleiben heute noch 24, wenn man privilegiert ist. Andere drehen sogar in 19 Tage einen 90 Minüter – aber das ist Selbstausbeutung. Außerdem sind heute viele junge Frauen in den Teams. Anfangs gab es nur die Garderobiere und die Friseurin im weißen Kittel - und ein Scriptgirl, das meistens das Verhältnis des Regisseurs war. Das hat sich geändert.