Herr Nay, "Deutschland 83" hat schon Monate vor der Ausstrahlung einen enormen Branchenhype entfacht. Ist die Serie für Sie ganz persönlich auch so ein Phänomen?
Oh ja, das ist sie gleich in mehrfacher Hinsicht. Angesichts dessen, was ich bisher gemacht habe, war es ein ziemlicher Sprung für mich, eine RTL-Serie zu drehen. Gleichzeitig war es mit Abstand die intensivste Arbeitszeit, die ich bislang überhaupt hatte. Wie bei keinem anderen Projekt steckte ich ein halbes Jahr lang mit in der Stoffarbeit. Anna Winger, Creator und Headautorin der Serie, hat großen Wert darauf gelegt, dass ich die Motivation meiner Figur in jeder einzelnen Situation kenne und verstehe. Daran haben wir gemeinsam gearbeitet. Anna hat immer gesagt: You know your Moritz better than I do. Das war für mich eine ganz neue Arbeitsweise. Diese Frau ist ein unglaublich kreatives Brain – und trotzdem so uneitel im Umgang mit dem, was sie geschrieben hat.
Wie können wir uns diese Arbeitsweise konkret vorstellen?
Ich kam im Sommer 2014 gerade von den Dreharbeiten zum ZDF-Dreiteiler "Tannbach" aus Prag und bin dann sofort nach Berlin gezogen, obwohl ich eigentlich Lübecker bin. Ich wollte mich bewusst von allem abschotten, keine Ablenkung haben und mich mit Tunnelblick nur auf "Deutschland 83" konzentrieren. Da saß ich dann in einem Ein-Zimmer-Apartment am Rosenthaler Platz mit den ersten Drehbüchern und einem riesigen Stapel an Vorbereitungsmaterial, das mir die UFA zusammengestellt hatte. Mit Anna und dem Regisseur Edward Berger habe ich zwei Monate vor Drehbeginn die ersten vier Episodenbücher durchgearbeitet. Die vier weiteren kamen erst, als wir schon am Drehen waren. Das Ganze stand also unter ziemlichem Zeitdruck. Tagsüber habe ich gedreht, abends eine Stunde Text gelernt und zwei Stunden an den neuen Büchern gearbeitet. Dreimal die Woche hatte ich Kickboxen, am Wochenende Stunttraining. Ich war noch nie in meinem Leben so fit.
Der durchschnittliche RTL-Zuschauer ist so alt, dass bei "Deutschland 83" emotionale Erinnerungen aufkommen dürften. Sie haben damals noch gar nicht gelebt...
Trotzdem fühle ich eine emotionale Bindung an 1983. Ich bin mit der Musik von damals aufgewachsen, obwohl ich ein 90er Jahrgang bin. Das war die Musik meines Vaters, der Gitarre gespielt hat. Ich habe mit sieben Jahren angefangen, Klavier zu spielen, weil ich mit ihm gemeinsam die Songs von Elton John, Billy Joel, The Police und Genesis spielen wollte. Das alles habe ich noch heute auf meinem iPhone, das ist meine Musik. Die Serie spielt sehr stark mit den Elementen von Musik und Popkultur. Im Drehbuch standen schon so Anweisungen wie: Bei dieser Szene läuft Police mit "Wrapped Around Your Finger". Dadurch hatte ich sofort bestimmte Bilder im Kopf und konnte mir die Stimmung der Szene vorstellen.
Das mag für die Musik gelten. Aber was ist mit der Erinnerung an politische oder gesellschaftliche Stimmungen von damals? Wenn man die nicht selbst hat, sondern nachlesen muss – macht das die Arbeit eines Schauspielers schwieriger oder vielleicht sogar leichter?
Ich glaube, eher etwas schwieriger, weil man weniger eigene Kontrollmechanismen in sich hat. Bei "Homevideo" zum Beispiel hatte ich die, weil ich ja wusste, wie Mobbing zu meiner Schulzeit abgelaufen ist und wie soziale Netzwerke funktionieren. Grundsätzlich nähere ich mich meinen Rollen mit dem an, was mir auf emotionaler Ebene geläufig ist. Darüber hinaus konnte ich mich in diesem Fall wirklich auf die hervorragenden Bücher und auf tolle Fachberater verlassen. Ganz ehrlich: Dass es jemals einen Zustand mit zwei getrennten deutschen Staaten gab, ist für mich ein total absurder Gedanke. Ich bin glücklich, dass ich das nicht miterleben musste.
Welchen Stellenwert hat für Sie der große Anklang, den "Deutschland 83" diesen Sommer in den USA rund um die Ausstrahlung bei SundanceTV gefunden hat?
Die Premiere in New York war echt ein einschneidendes Erlebnis, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben in den Staaten war. Der Chef von SundanceTV hat uns ins Village Vanguard, einen der legendärsten New Yorker Jazzclubs, eingeladen, weil er wusste, dass ich Jazzpianist bin. Das war ein total verrücktes Gefühl, als ich meine ersten englischen Live-Interviews gab oder als ich unmittelbar die Reaktionen von amerikanischen Journalisten mitbekam, die völlig mitgerissen waren. Immerhin reden wir von Medien wie "New York Times" oder "Wall Street Journal". Wenn die überhaupt mal Serien rezensieren, dann normalerweise solche, von denen ich selbst ein Fan bin. Sowas fühlt sich wie ein Ritterschlag an und gibt einem wahnsinnig viel zurück, nachdem man so viel Energie und Liebe investiert hat. Da muss man aufpassen, dass man keine Höhenflüge kriegt.
"Ich glaube, dass wir uns in der deutschen Serienlandschaft neu aufstellen können"
Jonas Nay, Hauptdarsteller von "Deutschland 83"
Apropos Höhenflüge: Sind Sie der Hollywood-Karriere jetzt ein Stück näher?
Da habe ich keine direkten Auswirkungen gemerkt. Ich hatte aber auch vorher schon ein paar internationale Anfragen. Für mich als extrem heimatverbundener Mensch – mit meinem Studium, meiner Band und meinen Freunden – ist der US-Markt, wenn überhaupt, nur ein temporäres Thema.
Sie haben eben erwähnt, dass Sie Serienfan sind. Wie schätzen Sie denn die nähere Zukunft der deutschen Serie nach "Deutschland 83" ein?
Ich liebe Serien und freue mich immer, wenn ich neue Schätze entdecken kann. Momentan gucke ich mit Begeisterung die zweite Staffel von "Fargo". Aus Deutschland haben mir "Blochin", "KDD" oder "Im Angesicht des Verbrechens" gut gefallen. Das Schöne an "Deutschland 83" ist natürlich, dass es so global funktioniert und nach Russland genauso verkauft wurde wie nach Amerika. Ich glaube, dass wir uns damit in der deutschen Serienlandschaft neu aufstellen können. Ich habe das Gefühl, dass diese Welle langsam anrollt – und mit ihr die immer breiter werdende Erkenntnis, dass wir auch horizontal erzählte Serien können.
Herr Nay, herzlichen Dank für das Gespräch.