Herr Wallraff, es ist 35 Jahre her, dass Sie als Hans Esser undercover bei der BILD-Zeitung recherchiert haben und zu einem ihrer größten Kritiker wurden. An diesem Wochenende wird das Blatt, das Sie in Ihrem Buch „Der Aufmacher“ unter anderem als „Geburtshelfer des deutschen Terrorismus“ und „Zentralorgan des Rufmords“ beschrieben haben, 60 Jahre alt. Halten Sie es heute immer noch für notwendig, die BILD-Zeitung zu bekämpfen?
 
Im Prinzip sehe ich „BILD“ nach wie vor in der Rolle eines gemeingefährlichen Triebtäters, der unter ständiger Beobachtung stehen muss.
 
Weshalb konkret?
 
Die „BILD“ hat durch ihre hohe Auflage und die flächendeckende Verbreitung immer noch eine große Macht. Sie gilt zudem aus Gedankenlosigkeit und Trägheitsgesetzen in vielen Redaktionen immer noch als Leitmedium, dem man nachhechelt. Sie hat alle Möglichkeiten, jederzeit zuzuschlagen und eine verheerende Wirkung zu erzielen. Ihre Triebstruktur und die Instinkte, die es dazu braucht, sind nach wie vor da. Das ist das Phänomen des Triebtäters: Sie können lange Zeit unauffällig sein und dann plötzlich wieder zuschlagen.

Wo wird es denn aus Ihrer Sicht gefährlich?
 
Aktuell zum Beispiel wenn es um die Stigmatisierung der von ihnen so genannten „Pleite-Griechen“ geht. Eine ganze Bevölkerung wird da in Generalverdacht genommen und pauschal als faul und arbeitsscheu beschimpft. Das hat verheerende Auswirkungen in Griechenland. Dass eine extreme Deutschenfeindlichkeit überhaupt erst entstanden ist und die Deutschen als Eroberer angesehen werden, ist weitgehend auch das Werk von „BILD“. Man braucht dort einfach gewisse Feindbilder. Wobei man auch sagen muss: Grundsätzlich findet die direkte Hetze gegen Ausländer nicht mehr statt.
 
Das heißt, „BILD“ ist teilweise auch zahmer geworden?
 
Sagen wir mal so: „BILD“ hat jahrzehntelang an die allerniedersten Instinkte appelliert, hat Hetze betrieben auf Kosten von Minderheiten, Hass gesät, Wahnwelten geschaffen. „BILD“ war immer der härteste, der aggressivste Stoff. Ich habe Briefe von „BILD“-Lesern bekommen, die schrieben: „Ein Tag ohne ,BILD‘ ist für mich kein Tag.“ „BILD“ war ihr Heroin. Aus dem härtesten Drogenstoff ist jetzt eher das Methadon-Programm geworden.
 
Woran liegt das?
 
Ich habe den Eindruck, die „BILD“-Macher merken, dass sie anfangen müssen, sich einer neuen Zeit zu stellen, wenn sie bestehen bleiben wollen. „BILD“ verliert ja dramatisch an Auflage, sie ist von von ehemals fast sechs Millionen Auflage inzwischen auf weit unter drei Millionen gesunken. Sie können ihre Leser auch nicht völlig ignorieren. Vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb sie nicht mehr gegen Ausländer hetzen. Ein Teil ihrer Leser sind schließlich Leute mit Migrationshintergrund, die „BILD“ auch wegen der einfachen Sprache lesen.
 
Es heißt oft, die „BILD“-Zeitung mache selbst Politik. Inwiefern würden Sie dem heute zustimmen?
 
Sie ist nach wie vor, auch wenn sie sich vordergründig unpolitisch gibt, ein politisches Blatt mit ganz klaren politischen Präferenzen. Zu Wahlkampfzeiten leistet „BILD“ stets Wahlhilfe für den jeweils konservativsten Kandidaten. Obwohl sie damit in der Regel nicht zum Ziel kommt. Eine demokratische Öffentlichkeit hat Franz-Josef Strauß verhindert, obwohl „BILD“ ihn auf Teufel komm raus zum Kanzler machen wollte.
 
Auch im Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff hat die „BILD“-Zeitung eine entscheidende Rolle gespielt.

Er war ja eigentlich embedded. Er wurde von ihnen aufgebaut und regelmäßig umjubelt, es gab nur positive Propaganda. „BILD“ hat ihn zum ersten Mal die gelbe Karte gezeigt, als er Thilo Sarrazin, als der noch Banker war, aus dem Amt entfernen wollte. Als Wulff sich dann noch sehr für die Integration einsetzte und den Satz sagte, der Islam gehöre zu Deutschland, da hat man ihm die rote Karte gezeigt und er wurde zum Abschuss freigegeben.